Von Ingobert Waltenberger.
„Archaisches als Türöffner zu einer spirituellen Moderne“ Habakuk Traber
Wie ein blondgelockter Erzengel der Musik tritt Robin Ticciati, seit letzter Saison Chefdirigent und künstlerischer Leiter des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin(DSO), ans Pult im ausverkauften Großen Saal der Philharmonie. Zum Programm gewählt hat sich der 35-Jahre junge charismatische Musiker mit den wohl elegantesten feintänzerisch-schwingenden Dirigierbewegungen seit Carlos Kleiber das Vorspiel zum ersten Akt und die Suite aus dem dritten Akt (zusammengestellt von Claudio Abbado) von Richarde Wagners Parsifal und die Musik zu dem Mysterienspiel von Gabriele D‘Annunzio „Le martyre de Saint Sébastien“ für Soli, Sprecher, Chor und Orchester von Claude Debussy.
Der englische Maestro, vormals Chef des Scottish Chamber Orchestra und seit 2014 quirliger Musikdirektor der Glyndebourne Festival Opera, begibt sich damit in eine Welt, wo sich Musik weit in das rätselhafte Wechselspiel von Kunst, Religion, Sagen und Mythen wagt. Parallelen zwischen den beiden Werken gibt es nicht nur musikalische mit den typischen Quinten und Sekunden hier und da. Debussy hat bei seiner Bühnenmusik zum „Heiligen Sebastian“ trotz aller Absichten, sich von Wagner lösen zu wollen, unüberhörbar tief in dessen musikalischen Motivenschatz gegriffen und einige schmucke Perlen in die Zacken seiner Partitur geflochten. Ideengeschichtlich finden wir in beiden Werken christusähnliche Figuren: Amfortas mit seiner vom Speer geschlagenen Wunde und Sebastian, der an einen Lorbeerbaum gebunden von Pfeilen seiner Freunde den die Menschheit erlösenden Tod finden soll. In beiden Werken geht es um die Transposition des Religiösen ins Theater und was Musik dabei zu sagen hat, wie Ticciati anmerkt.
Ich bin auf Robin Ticciati durch seine letzte bei Linn erschienene Brahms-Aufnahme mit dem Scottish Chamber Orchestra aufmerksam geworden. Der Symphonien-Zyklus zählt trotz überreicher Konkurrenz zu den besten Interpretationen des gesamten Katalogs. Jetzt leitet er das DSO und die Harmonie zwischen Dirigent und Orchester könnte – dem Gefühl nach zu schließen – noch einiges an intensiver Annäherung vertragen. Bei Wagners Parsifal-Ausschnitten merkt man den Versuch des Dirigenten, die Orchestergruppen innovativ in quasi konzertierender Form mit intensiveren Licht- und Schatteneffekten zu größerer räumlicher Durchhörbarkeit anzuregen. Da wackelt jedoch beim Vorspiel zu Parsifal noch einiges in der Balance zwischen zu groben Bläsern und allzu matt klingenden Streichern. Exzellent und engagiert sind von Beginn an nur die Holzbläser des Orchesters, deren Soli die Höhepunkte vor der Pause markieren.
Die Orchestersuite zum dritten Akt Parsifal wurde von Claudio Abbado 2003 erstellt. In einer logischen Klammer à la Tristan-Vorspiel und Isoldes Liebestod sollte nachvollzogen werden können, dass der Schluss der Oper zur funkelnden Apotheose bringt, was in der Einleitung als Möglichkeit angelegt ist. Alle Solostimmen werden ausgelassen, nur der Chor darf zum Einzug der Rittergruppen in die Halle des Monsalvat, wo Amfortas den Gral enthüllen soll, sowie in der das himmlische Paradies evozierenden Schlussszene singen. Der Rundfunkchor Berlin (Einstudierung Michael Alber.) mit den Damen hoch auf den Emporen postiert, erbringt eine mustergültige Leistung an homogenem Männerklang und leuchtenden Sopranlegati. Liegt es an der Fassung von Abbado mit teils abfallenden Übergängen oder an einer an manchen Gesichtern des Orchesters abzulesenden Unbeteiligtheit, eine Gesamtspannung will sich trotz wunderschöner Momente nicht einstellen.
Nach der Pause war die selten aufgeführte Musik zu dem schwülstigen Mysterienspiel von Gabriele D‘Annunzio „Le martyre de Saint-Sébastien“ von Claude Debussy in fünf sogenannten Mansionen (soll heißen Stationen) zu hören. Die Geschichte dieser Figur als eines in religiöser Verzücktheit sterbenden Adonis, weil Hauptmann Sébastien aus seinem Bekenntnis zum Christentum heraus mit dem Götter- und Personenkult seines Kaisers Diokletian in Konflikt kam, inspirierte viele Künstler. D‘Annunzio hat das Stück als Gesamtkunstwerk in Paris konzipiert, wo sich Schauspiel, Ballett und Oper zu einem neuen Ganzen vereinen sollten. Die androgyn wirkende Tänzerin Ida Rubinstein sollte Sébastien verkörpern. D‘Annunzio hat sich für die Komposition der Musik nach Absagen von Florent Schmitt und Jean Roger-Ducasse an Claude Debussy gewandt. Damit hatte er einen Nerv des experimentellen Tonsetzers Debussy getroffen, der seinerseits danach trachtete, Musik, Sprache und Theater in neue Formen zu gießen. Die beim Konzert gespielte etwa einstündige Version (insgesamt dauert das D‘Annunzio Stück fünf Stunden!) stammt von Désiré-Émile Inghelbrecht und seiner Frau Germaine, die Auszüge aus dem Schauspieltext zwischen die Nummern fügte, später nochmals von Pierre Boulez für eine Neuedition revidiert.
In der stimmungsvollen konzertanten Aufführung in der Philharmonie mit halbkonzertanten Elementen (Beleuchtung, Verteilung der Sänger und Sprecherin im Raum) sorgen drei hervorragende Solistinnen – die hochschwangere Erin Morley mit strahlend silbern blitzendem Sopran, Anna Stéphany mit schlankem Mezzo und die beeindruckend orgelnde Altistin Katharina Magiera für vokalen Glanz. Als Sprecherin einer Pythia gleich ist die britische Opernikone Dame Felicity Lott in schwarzem Satinhosenanzug und diesen durch einen wallend roten durchsichtigen Mantel umhüllend als Luxusbesetzung aufgeboten. Wiewohl Lott bei aller Ausstrahlung fasziniert und exzellent Französisch spricht, fehlen ihrer Stimme das Letzte an schauspielerischer Präsenz/Prägnanz und markant gesprochenen Konsonanten. Der Chor ist ohne Fehl und Tadel, das Orchester bringt hier die Spannung auf, die bei Parsifal gefehlt hat. Besonders interessant sind die dritte („Der Rat der falschen Götter“) und fünfte „Mansion“ („Das Paradies“), wo Debussy wahrlich andere, theatralisch konkretere Töne anschlägt, als man dies von ihm in seiner wesentlich „sanfteren“ Oper „Pélleas et Melisande“ gewöhnt ist. Stellenweise wagnert es auch ganz gehörig mit allseits bekannten Harfen- und Holzbläserklängen sowie viel As-Dur.
Robin Ticciati animiert und steuert das komplexe Zusammenspiel. Seine traumwandlerische Musikalität, das feinnervige Dirigat sowie seine außerordentliche Intensität sind Träger für das Gelingen des Abends. Berlin und das DSO haben sich mit Ticciati vielleicht den besten Dirigenten der jüngeren Generation geangelt. Jetzt geht es darum, dass der Dirigent in der künftigen Zusammenarbeit mit dem DSO sein künstlerisches Potential voll einbringen kann. Beste Voraussetzungen zu solch einer fruchtbaren Kooperation sollten auf beiden Seiten bestehen.
Tipp: Das Konzert wurde vom Deutschlandfunk aufgezeichnet und wird am 23.9.2018 ab 21.05 Uhr als „Konzertdokument der Woche“ gesendet.
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