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Statt Kino: Die Saisoneröffnung der Berliner Philharmoniker

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Ingobert Waltenberger erlebte die Saisoneröffnung der Berliner Philharmoniker mit Gustav Mahlers VII. Symphonie unter der Leitung von Kirill Petrenko am 26. August 2022 aus der Zoopalast-Kinoperspektive. Das Konzert wurde in Deutschland in 95 Kinos landesweit übertragen, in Österreich nur in Lustenau und auch in Norwegen nur in einem einzigen Kino. Wer es verpasst hat, kann sich das Konzerterlebnis auch in sein Wohnzimmer holen.

Gustav Mahlers Siebente war das 1904/05 entstandene musikalische Sorgenkind des Komponisten. So recht wollten die Noten nicht aus des Sommerkomponisten Feder fließen, während der Saison hatte der vielbeschäftigte Dirigent und Operndirektor nämlich kaum Zeit und Ruhe, ein größeres Werk voranzutreiben. Vom Wörthersee, wo Gustav Mahler hoch über Maiernigg am Südufer des Sees sein bescheidenes Komponierhäuschen hatte, ging es in die Südtiroler Dolomiten und wieder zurück. Nachdem er die beiden Nachtmusiken, die Sätze zwei und vier – in der Nachfolge der1900 entstandenen drei Nocturnes von Claude Debussy – im Sommer 1904 fertig stellen konnte, lief es im Sommer 1905 umso schlechter.

Gustav Mahlers Villa am Südufer des Wörthersees / Copyright Anna Koppitsch/Stadt Klagenfurt

Erst ein Bootsausflug im Wörthersee, so will es die Legende, brachte den ersehnten Durchbruch nach der fürchterlichen Schreibblockade. „Beim ersten Ruderschlag fiel mir das Thema (oder mehr der Rhythmus und die Art) der Einleitung zum ersten Satz ein.“ Die weitere vierwöchige Arbeit bis zur Vollendung Arbeit dürfte ein aufregendes, aber im Grunde heiteres Vergnügen gewesen sein. Die Instrumentierung sollte sich allerdings wieder als mühsam erweisen, gute Geister wie Otto Klemperer standen fallweise mit Rat zur Seite. Die Uraufführung unter Mahlers Leitung fand am 19. September 1908 in Prag statt, es spielte das Orchester der Tschechischen Philharmonie.

Komponierhäuschen im Wald über Maiernigg am Kärntner Wörthersee / Copyright Anna Koppitsch/Stadt Klagenfurt

Die Berliner Philharmoniker kennen ihren Mahler, und auch die Siebente aus langer Tradition. Am 8. November 1920 hat das Orchester diese Sinfonie zum ersten Mal unter Arthur Nikisch gespielt, dann folgte Claudio Abbado, der einer der wichtigsten Mahler Interpreten des 20. Jahrhunderts war. Sir Simon Rattle zog nach. Der Mitschnitt vom 26.8.2016 ist im Rahmen der Gesamtedition aller Mahler Symphonien mit unterschiedlichen Dirigenten bei Berliner Philharmoniker Recordings erhältlich. Und jetzt erklang die Siebente erstmals unter Kirill Petrenko. Dem „Identitäten“-Schwerpunkt der Saison 2022/23 gemäß lautet die entscheidende Frage im Hier und Heute: „Wer bin ich, wer will ich sein?“ Der Blick auf uns selbst ist in Bewegung geraten, auch unsere Ideale als Gesellschaft werden mit beispielloser Dringlichkeit diskutiert. In der Philharmonie will die Musik ihren Beitrag zu dieser Debatte liefern.

Und da passt die VII. Mahler sicher hervorragend ins Konzept. Menschliche Ordnung oder besser Unordnung/Überforderung des Planeten versus die nicht voraussagbaren, völlig emotionsamorphen Schauspiele der Natur. Eine musikalisch überwältigende Reflexion über das Menschsein, Erinnerungen an das Kindsein, das ruppig ruckelnde Erwachsenenleben und immer wieder die Tröstungen der Natur. Das für kurze Momente Haltfinden am permanent dröhnenden individuellen und politischen Abgrund. Das in aller Komplexität des Daseins verfangen Geborgene im eigenen Selbst und entsprechender Natur-Spiegelung zu finden, Mahler inszenierte das als großes musikalisches Welttheater, zwischen düster unheimlichem Angstruf, ironisierend ausgelassenem Witz und großen, allzu großen, bis in das Weltall jagenden Jubelstimmungen. Davon spricht auch das jauchzende Rondo Finale im 5. Satz, das mit Zitaten aus Richard Wagners Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ gespickt lustvoll das Leben und ihre niemals zu ergründende Doppelbödigkeit malt. Das Dasein als Tragödie oder böser Scherz? Mahler entschied sich 1905 für das aus Furcht und Todesahnungen rettende Lachen in orgiastischen Blechbläserfanfaren. Der Musikkritiker Karl Schumann analysierte dazu: „Vielleicht ist dies eine riesige Persiflage des Pomposo-Stils der Jahrhundertwende, eine bizarre Summe von Orchestereffekten, etwa nach der Art des Amerikaners Charles Ives.“

Kirill Petrenko kennt die Siebente Mahlers bestens. Von dem Konzert am 28./29. März 2018 aus dem Nationaltheater München mit dem Bayerischen Staatsorchester ist im Eigenlabel des Orchesters ein beeindruckender, vor positiver Energie nur so strotzender Mitschnitt erschienen. Die Tempi waren 2018 recht geschürzt gewählt, 72 Minuten 32 Sekunden hat Petrenko bis zum letzten Paukenschlag gebraucht.

Jetzt setzt Petrenko die formale Tempo-Balance weiter und philosophischer nachdenklicher, möchte man hören. Der perfektionistische Dirigent, der trotz einer Fußverletzung das Konzert auch vom körperlichen Einsatz her mit vollem Einsatz leitete, hat eine nahe Beziehung zu dieser disparaten, von Wiener Walzerseligkeit im Scherzo bis zur geschwätzigen Plauderei der Instrumente und allerlei Visionen auf „höchstem Gipfel im Angesicht der Ewigkeit“, ausgelöst durch Kuhglockengebimmel, bzw. amourösen Serenaden à la „Don Giovanni“ (2. Nachtmusik mit Harfe, Gitarre und Mandoline) reichenden Werks. Wie nicht anders zu erwarten war, erfüllte das Konzert höchste Ansprüche und reiht sich würdig in die Top-Liste an Mahler Interpretationen.

Neben dem raffinierten Klangwitz – manchmal meint man, das Echo eines Strauss’schen symphonischen Gedichts zu hören, – dürfte der „Ausblick auf eine bessere Welt“ im fünften Satz Petrenko ein großes Anliegen sein.  Das Finale habe ich nie stringenter und eindeutiger hoffnungssehnsüchtig gehört wie an diesem Abend im Berliner Zoopalast. Natürlich sind im Kino die Konzentration und der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit eine ganz andere als im Konzertsaal. Das bewirkt schon die Bildregie, die genau immer das Instrument bzw. die Gruppe in die Volle zoomt, die mit einem Einsatz oder einer Solopassage dran sind. Da ist zu merken, wie individuell genau und dennoch frei in den Parlando-Passagen der Dirigent mit dem Orchester gearbeitet hat. Mit dem durchdachten Räderwerk einer Schweizer Uhr findet Petrenko jedes Timing, gestaltet sowohl das Ineinanderwirken der Einsätze kammermusikalisch transparent und lässt die Höhepunkte der Partitur magisch aufrauschen.

Ein Vorteil im Kino gegenüber der Konzertsituation, die natürlich akustisch und atmosphärisch einzigartig und unersetzlich bleibt, ist es, den Dirigenten wirklich hautnah bei seiner Arbeit beobachten zu dürfen, seiner Mimik und den tänzerischen Bewegungen in Großaufnahme folgen zu können. Da war zu sehen, welche Freude Petrenko an der Realisierung dieser romantischen Partitur hat, wie sich die auf fünf Satze verteilten Stimmungen, Reminiszenzen und Utopien zu etwas Rundem fügen, das „die Rückkehr ins Leben“ (Zitat Paul Bekker) feiert. Hier kann auch der neue Solopauker der Berliner Philharmoniker, Vincent Vogel, zeigen, wie hervorragend und elegant er sich in die altehrwürdige Formation fügt.

2006 sagte Kirill Petrenko über die Berliner Philharmoniker, nachdem er das Orchester zum ersten Mal dirigiert hatte: „Das Besondere an den Berliner Philharmonikern ist die Fähigkeit und der Mut jedes einzelnen Musikers, ob Solobläser oder Tuttistreicher, während des Musizierens eine große Freiheit auszustrahlen. Eine Freiheit, die das ganze Gefüge immer im Blick behält, ein beherrschtes Risiko, bei dem die große Ordnung nicht ins Wanken gerät und die dennoch eine völlige Entfesselung im Moment der Aufführung ermöglicht.“ Dieses Motto auf Heute umgemünzt zeigt, wie sehr Petrenko dieser Gabe folgend mit harter Arbeit und unbeschreibbarem Charisma während der Aufführung Ergebnisse erzielt, die jenseits aller Worte Vollendung erahnen lassen.

Am Schluss ein unendlicher Jubel!

Tipp: Kirill Petrenko dirigiert Dallapiccolas »Der Gefangene«
aus dem Großen Saal der Berliner Philharmonie mit Wolfgang Koch Bariton, Ekaterina Semenchuk Mezzosopran und Wolfgang Ablinger-Sperrhacke Tenor, den Berliner Philharmonikern und dem Rundfunkchor Berlin.
Donnerstag 15.09.22 um 20 Uhr | Freitag 16.09.22 um 20 Uhr | Samstag 17.09.22 un 19 Uhr

Der Film wird aktuell bearbeitet und in Kürze im Archiv der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker als Zusammenschnitt beider Konzerte zur Verfügung stehen.

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