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Finali oder When The Last Curtain Falls oder Wenn der letzte Vorhang fällt

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Letzte Eindrücke von dem Sommerfestival, das in vielerlei Hinsicht den Fokus auf sich zu ziehen vermochte: „Die Bayreuther Festspiele 2022“, Teil 1. Von Barbara Röder.

richard wagner porträt

„Tannhäuser“ als spannender, zeitbezogener Roadmovie, inszeniert von Tobias Kratzer

Es ist eine Wonne, die letzten Aufführungstage in Bayreuth auf dem Grünen Hügel zu erleben. Herbstlaub ist zu riechen und bunte Farben sind zu sehen. Gelassenheit und freudige Entspanntheit füllen die lauschige Atmosphäre. Der große, im Park gelegene Teich ist hergerichtet für die schillernde Performance der britischen Dragqueen und des Travestie-Künstlers “Le Gateau Chocolat”. Denn die Aufführung „Tannhäuser“ wird dort in der ersten Pause des 2019 von Tobias Kratzer  neu inszenierten Wartburgsänger-Contests fortgesetzt. Ganz verzaubert sind alle von „Le Gateau Chocolat“. Er ist ein außergewöhnlicher Performer. Ein bis in die Fingerspitzen hinein exaltiert agierender Paradiesvogel, der das Publikum am See und im Opernhaus in Verzückung setzt. Dann wird getuschelt und bedauert: „Manni ist nicht dabei“, sagt eine Dame vor mir beim Aufgang zum Festspielhaus. Das dicke Tannhäuser-Programmbuch hält sie in der Hand und zückt den aktuellen Besetzungszettel. Als Blechtrommel spielender Oskar Matzerath hat Mick Morris Mehnert nämlich die stumme, aber tragende Rolle für den erkrankten Manni Laudenbach übernommen. Mehnert spielt später diesen Oskar wunderbar glaubhaft, ganz auf seine Art.

Die große, romantische Oper „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg“ legt Tobias Kratzer als monumentalen, in sich stimmigen Roadmovie an. Kratzer fühlt sich dem Bayreuther Werkstattgedanken verpflichtet. Seine Introspektion in das revolutionäre Werk „Tannhäuser“ ist in seiner Darstellung an Intensität um das Ringen eine Künstlers nach Anerkennung, Liebe und Vergebung, gewachsen. Das ist dieses Jahr deutlich und hautnah spürbar. Das ewig wiederkehrende Thema, das des vereinsamten Künstlers, der im lustvollen Rausch und Sinnen frohen Übermaß sehr schnell Langeweile erkennt, daran leidet und seiner Idealvorstellung vom Wesen der Liebe nachjagt, ist aktueller denn je.

Bayreuther Festspiele 2022; Tannhäuser; Kratzer

Wie in den Jahren davor, lassen wir einmal die Nicht-Spielzeit 2020 außen vor, gibt es in Kratzers Inszenierung ikonische Tableaus und eindringlich beschauliche Videoprojektionen, die Zustände des Scheiterns und Orte kurzen Glücks in und um Bayreuth zeigen. In der videobespielten Ouvertüre, die mild und sanft aufbrausend von Axel Kober dirigierend aus dem Graben fließt, fliegen wir zum begrünten Wartburghügel. Wir sehen einen alten Wellblech-Citroën HY auf der Landstraße. Eine Anspielung auf Frankreichs Traditionssymbol! Wagners Tannhäuser wurde nämlich 1860 an der Pariser Opéra skandalös niedergemacht. Ein kluger Schachzug Kratzers ist es, kleine versteckte Hinweise zu Wagners Leben in die Bilder seiner Inszenierung einzubinden. Lustvoll zitiert Kratzer auch ikonische Symbole deutscher Kulturgeschichte oder historischer Bayreuther Inszenierungen. So sitzt ein grünes Häschen auf dem Dach des Citroën. Christoph Schlingensiefs Parsifal sendet einen Gruß. Nicht fehlen darf der Deutsche Wald oder das Hexenhäuschen aus dem Brüder Grimm Märchen „Hänsel und Gretel“. Der Schöpfer der gleichnamigen Oper Engelbert Humperdinck war übrigens Assistent bei Wagners Parsifal 1881 und unterrichtete Wagners Sohn Siegfried in Kompositionslehre. Gartenzwerge oder die Burgerking-Pappkrone, die sich Venus später aufsetzt. (Bühne und Kostüm, Rainer Sellmeier) sind auch dabei. Dann schauen wir in die breite Vorderfront des Wagens.

Bayreuther Festspiele 2022; Tannhäuser; Kratzer

Ein traurig aussehender Clown, eine fesche Blondine( Venus), die schrille Dragqueen „Le Gateau Chocolat“ und Oskar Mazerath, der Blechtrommel schlagende Revoluzzer aus Günter Grass’ Roman “Die Blechtrommel” sind die Genusstruppe vom Venusberg. Ihr Lebens- und Überlebensmotto stammt von Richard Wagner: “Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen”. Venus ist Aktivistin und klebt Flyer mit diesem Motto auf alle freien Flächen, die sie findet. Im zweiten Aufzug flattert das Banner mit dem Spruch dann auch vom Festspielhaus herab. Dann begeht Venus den fatalen Fehler, der den Clown „Tannhäuser“ innerlich zurück zur alten Gemeinschaft auf der Wartburg zwingt. Sie nietet beim Benzinklau kaltblütig, spaßvoll einen Polizisten um. Tannhäuser quälen Skrupel deswegen. Er springt aus dem fahrenden Wagen, wirft das Clownskostüm von sich und landet vor dem Festspielhaus in Bayreuth. Aus dem Spaßmacher wird wieder Tannhäuser. Er schlüpft in seine alte Identität. Dort trifft er auf Besucher der Oper „Tannhäuser“. Auf dem Bühnenhügel stehen dirigierende Wagnerskulpturen von Ottmar Hörl: wieder ein Kultsymbol, das der Wagnerpilger in und um das reale Bayreuth antrifft. Kratzer und sein vortrefflicher Videokünstler Manuel Braun ziehen den Zuschauer nun in ein Spiel im Spiel. Man sieht die reale Welt der Hinterbühne, die vor dem Festspielhaus und die Szenerie auf der Bühne. Die alten Verbündeten Tannhäusers steigen über eine Leiter ins Festspielhaus, rollen das Banner mit Wagners Freiheitsmotto und entern die Szenerie. Das wird im oberen Abschnitt auf der Bühne in schwarz-weiß Videomitschnitten gezeigt. Im unteren Abschnitt, der mit einem weißen Neonrahmen begrenzt ist, läuft der Sängerwettstreit ab. Die Szenen erinnern an Inszenierungen von Wolfgang und Wieland Wagner aus den 60ern, die alle von schwarz-weiß Fotografien her kennen. Ein genialer Einfall!

Bayreuther Festspiele 2022; Tannhäuser; Kratzer

Beim großen Sängerfest in einer Kathedralenfilmkulisse auf der Bühne glänzen die herrlichen Edelknaben, patenten Minnesänger und vollmundig singende Festgemeinde. Allesamt tragen sie Gewänder des Mittelalters. Wieder mehr als bestens vorbereitet waren die üppigen Chorpartien (Einstudierung Eberhard Friedrich). Es ist eben ein Weltklasse-Chor, der Bayreuther Festspielchor! Den Landgraf Herrmann präsentiert ein wenig behäbig, aber klar artikulierend Albert Dohmen, Attilo Glaser singt beherzt und mit klarem Ton den Walter von der Vogelweide. Er reiht sich in die schön singende Riege der meisterlichen Minnesänger ein: Olafur Sigurdarson (Biterolf), Jorge Rodriguez-Norton (Heinrich der Schreiber) und Jens-Erik Aasbø (Reimar von Zweter) Tuuli Takala (Ein junger Hirt) und die vier Edelknaben. Im dramaturgisch beinharten letzten Aufzug erinnert vieles an die neorealistischen Filme von Pasolini oder an die tragikomischen Klassiker von Fellini. Ein jeder famose Sängerdarsteller hat eine Verwandlung durchlebt. Alle sind am Finden und Suchen nach „Der Liebe wahrstes Wesen‘ gescheitert. Gestrauchelt Einsame zeigt uns Tobias Kratzer. Heinrich Tannhäuser kommt innerlich zerschlagen und so gar nicht geläutert von seiner Pilgerreise aus Rom zurück. Wir befinden uns auf dem Abstellgleis des Lebens. Auf einem Schrottplatz, der nahe des Festspielhauses liegt, steht der marode Citroën HY. Er dient als Behausung für Oskar und ist Zuflucht für Elisabeth. Becketts Endspiel hat begonnen. Totes Gestrüpp und ein Gaskocher dienen als Wärme und Futterquelle für die Gestrandeten. Wenn die Bühne sich dreht sehen wir, dass “Le Gateau Chocolat” Hollywood Karriere gemacht hat. Auf einer Lichtreklame, einem strahlenden Billboard posiert die einstige Genossin für eine Luxusuhr im Stile Cartier. Venus hat sich nicht verändert. Sie ist Aktivistin und klebt munter weiter Plakate, die Aufruhr und Empörung hervorrufen sollen. Protest hilft aber nie ohne Publikum! Ekaterina Gubanova ist diese schlangenartig wendige und leidenschaftlich singende Venus. Ein famoses Spiel legt sie den Zuschauern zu Füßen. Elisabeth ist, wie schon im zweiten Aufzug angedeutet, Selbstmord gefährdet. Später wird sie sich im alten Citroën die Pulsadern aufschlitzen. Lise Davidsen singt diese zwiegespaltene, zerbrechliche und dennoch starke Elisabeth mit hoher Glaubwürdigkeit. Seit letztem Jahr hat ihre erdig gefärbte, fein ausbalancierte Stimme an Intensität gewonnen. Sie ist ein Glücksgriff für Bayreuth. (Vortrefflich sang sie dieses Jahr auch die Sieglinde im neu inszenierten „Ring“.)

Wolfram ist Elisabeth gefolgt. Nach einem kurzen, heftigen ‚Quickie‘ mit seiner Angebeteten klingt sein „O du, mein holder Abendstern. Wie Todesahnung Dämmrung deckt die Lande, Umhüllt das Tal mit schwärzlichem Gewande;“  benommen und fast fahl. Markus Eiche singt dieses Lied mit enormer Anteilnahme, gut verständlich und um den Todeskampf Elisabeths ahnend. Wie schon Jahre zuvor liegen Einsamkeit, Ödnis, verlorene Träume, vergebliches Bangen und Hoffen in diesen Szenen. Tannhäuser, der als Obdachloser mit schmierigem Haar und altem Parka aus Rom zurückkehrt, ist ebenso wie Elisabeth verloren. Der Papst hat ihm keine Absolution erteilt. Kratzers Deutung ist, dass für die ‚heilige, wahre Kunst‘, nur die Werke Wagners gelten. Ein Hinweis darauf, dass Wagners Werke die Religion ersetzen können. Die Kunst wird Religion. Die ist eine, welcher das irdische Leben zu dienen hat, die alles fordert. Ist Wagners Kunst das Maß aller Dinge für einen Künstler, Wagnerinterpreten? Diese Frage spukt noch lange nach der Aufführung durch die Köpfe der Zuschauer. Stephen Gould gestaltet diesen am Leben, der Kunst Gescheiterten mit höchster sängerdarstellerischer Inbrunst. Real, mit lyrischen Momenten, authentisch, wahr und bis in jede Faser des Herzens eindringlich. Gould spielt nie, er ist der wahre Mensch Tannhäuser! Er hat sich auf die verführerische Subkultur von Venus eingelassen. Die Wagner-Partitur, die er in den Händen hält, rollt er zusammen und wirft sie verächtlich zur Seite. Er, der Inbegriff des Künstlers, der alles getan hat, der holden, magischen Kunst zu dienen, ist restlos gescheitert. Als Mensch ist er erlöst und mit sich im Reinen, trotz seines Scheiterns. Im letzten Videobild sehen wir Tannhäuser und Elisabeth aneinander geschmiegt, als freie Liebende im Wellblech-Citroën durch die Wälder kurven. Die Wünsche und Träume der Liebenden haben gesiegt.

Rauschender, frenetischer Applaus für eine Humanismus, Toleranz und Zeitbezogenes atmende Seelenschau.

Dirigent Axel Kober gewährt uns, zusammen mit dem glänzend aufgelegten Bayreuther Festspielorchester, eine musikalisch hochsensible, spannungsgeladene Introspektion.

Bayreuther Festspiele 2022; Tannhäuser; Kratzer

Lassen wir zum Schluss den Dramatiker Hans Rehfisch kurz zu Wort kommen. „Hinter der Aktion des Individuums offenbart der große Dramatiker (Richard Wagner) das Walten gestaltloser, unerbittlicher Mächte: Gott, Schicksal, Natur, das „Unbewußte“ schlechthin … Keiner kann bestreiten, daß „neben Shakespeare und den griechischen Klassikern, Wagner das Genie der abendländischen Szene ist, ein Dramaturg ohnegleichen, ein unübertrefflicher Architekt der äußeren wie inneren Struktur des Bühnenwerks“ (1956). In jener Zeit erneuerten sich die Bayreuther Festspiele. Wolfgang und Wieland Wagner verwalteten das künstlerische Erbe. Heute sind die Nachgeborenen dran, Neues zu schaffen, Zeitgeist aufzuspüren und diesen kritisch zu hinterfragen! Tobias Kratzer und seinem überwältigend guten Team ist dies gelungen. Der Gedanke, den Grünen Hügel als wandelbare Lebensbühne der Toleranz und der Liebe zu zeigen, ist wegweisend. Vergangenheit-, Gegenwart- und Zukunft immanente, magische Augenblicke beglücken den Gucker und Hörer. Jubelnder einvernehmlicher Beifall für alle.

Großes Bravo!

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