Heute feiern die Märchenerzählern Kathleen Rappolt und die finnische Musikerin Annea Mikaela Lounatvuori im Berliner Theater o.N. mit Hans Christian Andersens Märchen „Die Schneekönigin“ Premiere. Die Geschichte um die kleine Gerda, die ihren Freund Kay aus den Fängen der kalten Schneekönigin befreit, berührt die beiden jedes Mal auf Neue. Barbara Hoppe sprach mit den beiden Künstlerinnen.
Feuilletonscout: Haben Sie als Kind gern Märchen gelesen?
Kathleen Rappolt: Ich habe mir Märchen lieber vorlesen oder erzählen lassen. Und ich hatte viele Märchenschallplatten, die ich sehr gern gehört habe.
Feuilletonscout: Was gefällt Ihnen an Hans Christian Andersen im allgemeinen und an „Die Schneekönigin“ im Besonderen?
Kathleen Rappolt: Hans Christian Andersen habe ich erst in den letzten Jahren lieben gelernt. Das war eigentlich ein Zufall. Ich hatte ein Engagement auf Bornholm und dort fiel mir das Buch Hans Christian Andersens Kopenhagen von Ulrich Sonnenberg in die Hände. Das ist ein Reiseführer der anschaulich schildert, an welchen Orten und Plätzen H. C. Andersen verweilte und lebte. Er ist ja mit 14 Jahren nach Kopenhagen gegangen. Und in dem Buch wird auch geschildert, wie Andersen die realen Schauplätze in seinen Märchen verarbeitet. Das fand ich spannend und dann bin ich mit dem Buch im Gepäck nach Kopenhagen gefahren, um auf Andersens Spuren zu wandern. Er selbst ist unglaublich viel gereist und das zu einer Zeit, als es nur Postkutschen und Dampfschiffe gab. Er soll ja auch gesagt haben: „Reisen ist Leben, dann wird das Leben reich und lebendig.“ Dem kann ich nur zustimmen. Ich war auch gerade im neu gebauten und eröffneten Hans Christian Andersen Museum des Architekten Kengo Kuma in Odense, wo Andersen geboren wurde. Eine absolute Empfehlung!
Natürlich bin ich auch als Kind mit seinen Märchen in Berührung gekommen Die kleine Meerjungfrau, Die Prinzessin auf der Erbse, Des Kaisers neue Kleider und selbstverständlich Die Schneekönigin. Meine Mutter schenkte mir einmal zu Weihnachten die Schallplatte (Regie: Christian Schwarz/Musik Christian Steyer). Die habe ich rauf und runter gehört. Ein Lied kommt auch in unserer Inszenierung vor. Als Kind fand ich es unglaublich mutig von Gerda, auf die Suche nach ihrem Freund Kay zu gehen. Jedes Mal habe ich aufs Neue mitgezittert, ob sie es schafft.
Diese mutige Mädchenfigur die sich durchkämpft, getragen von der Liebe zu ihrem Freund und auch der Hoffnung etwas bewirken zu können, in dem Fall den Freund zu retten, dass berührt mich und finde ich erzählenswert. Die Herzenswärme, die über die gefühlskalte Verstandeswelt, wofür die Schneekönigin steht, siegt. Und ich finde gerade in unserer heutigen Zeit, kann uns ein bisschen mehr Herzenswärme nicht schaden. Oder würde ich mir wünschen. Und natürlich hat Gerda magische Helferfiguren, deren Vielfalt das Märchen auch so phantastisch machen wie z.B. die Krähen, das Rentier oder das Räubermädchen.
Feuilletonscout: Warum sind Märchen auch heute noch wichtig und sollten Kindern erzählt werden?
Kathleen Rappolt: Märchen sind Kulturgüter. Sie verbinden uns. Und ich erlebe es immer wieder, wenn ich frei erzähle, wie die Kinder an meinen Lippen hängen. Sie wollen wissen, wie das Märchen ausgeht. In Deutschland und in Österreich ist das Märchenerzählen als Immaterielles Kulturerbe anerkannt worden. Und auch im Theater o.N. gibt es eine lange Tradition der Märchenadaptionen.
Märchen sind mit ihren Themen hochaktuell, denn sie verhandeln Universalthemen menschlicher Existenz wie Liebe, Tod, Verlust, Gier, Verrat, Vertrauen usw. Märchen können Zuhörerinnen und Zuhörer, egal welchen Alters, Mut und Hoffnung geben und auch Lösungswege aufzeigen. Mir fällt da gerade ein indonesischer Erzähler ein, der Kindern die Bedeutung der Mangrovenwälder mittels Märchen erzählen näher bringt. Sensibilisierung zum Umweltschutz durch Märchen. Sie pflanzen dann auch zusammen Mangroven. Das Ganze ist also ein aktiver Beitrag zum Umweltschutz.
Aber die Frage ist immer, warum erzähle ich welches Märchen? Was hat das mit mir zu tun? Warum will ich das erzählen? Wer ist mein Publikum? Es bedarf immer einer gründlichen Recherche. Bei der Schneekönigin z.B. spricht Andersen von der „Lappin“ das ist eine alte, teils abwertende Bezeichnung des indigenen Volkes, die Samen. Will sagen: Die Themen von Märchen sind zwar aktuell, aber die Sprache ist teilweise alt und es liegt in meiner Verantwortung diskriminierende Bezeichnungen nicht zu wiederholen.
Feuilletonscout: Wie erzählen Sie die Geschichte? Wie dicht sind Sie am Original?
Kathleen Rappolt: Wenn das Publikum zu unserer Aufführung kommt, dann erleben sie Erzähltheater. Also ich erzähle das Märchen (storytelling) aber es kommen auch performative Element vor.
Und wie immer, mein Beruf ist ja Märchen- und Geschichtenerzählerin, habe ich mir die einzelne Geschichten erst einmal angeeignet, d.h. ich erstelle eine Storymap (Ort/ Figuren/ Handlung/ Zeit etc.) und dann das Storyboard, also ich male die Geschichte in kleinen Bildern, vielleicht wie so ein Comic. Dann folgen weitere Visualisierungsübungen, um die Bilder der Geschichte mit allen Sinnen anzureichern Wie sehen die Orte in der Geschichte aus? Wie sehen die Figuren aus? Welche Farben gibt es? Wie riecht es? Was spüren die Figuren? Und anhand der Bilderfolge, die ich visualisiere, komme ich ins Erzählen.
Es ist natürlich toll, so eine wunderbare Kollegin an der Seite zu haben. Annea kommt aus Finnland und da haben wir auch viel über die Landschaft und den Winter in Finnland gesprochen. Die Schneekönigin ist auch ein Naturmärchen der Wechsel von Sommer und Winter, die blühendenden Rosen versus Schneekristall, können auch als Kreislauf des Lebens oder des Jahreskreislaufs gelesen werden.
Es war auch sehr schnell klar, dass Annea nicht nur als Musikerin auftreten wird, sondern dass wir auch finnisch – deutsches Tandem-Erzählen einbauen. Das bietet sich vor allem in der sechsten Geschichte an, in der Gerda auch auf eine alte Finnin trifft.
Und wie nah sind wir am Original? Die Zuschauerinnen und Zuschauer werden alle sieben Geschichten wiedererkennen, aber wir haben Kürzungen vorgenommen. Eine Herausforderung ist es, das Kunstmärchen in die Mündlichkeit zu bringen. Man hört, dass Andersens Märchen nicht wie z.B. Volksmärchen oral tradiert sind. Dennoch habe ich Sätze von ihm übernommen, weil ich sie mag und weil sie so Andersen sind — poetisch kraftvoll!
In einigen Szenen gibt es Interaktion mit dem Publikum. Das ist auch der besondere Unterschied zum klassischen Schauspiel: Die vierte Wand gibt es nicht. Erzählkunst lebt vom unmittelbaren Kontakt mit dem Publikum.
Feuilletonscout: Wie haben Sie sich als Duo der Geschichte angenommen?
Annea Lounatvuori: Am Anfang sind wir die einzelne Geschichten durchgegangen, haben über die Handlungen und Bilder gesprochen. Die Figuren, die bei der Reise nach Norden auftauchen, sind für mich sehr nah wegen meiner Herkunft.
Kathleen Rappolt: Und dann haben wir viel improvisiert, ausprobiert, gespielt, verworfen ohne zu wissen, ob die Premiere stattfinden kann, dass war ja 2020. Wir sind ganz glücklich, dass die Premiere am 4.12.21 um 16 Uhr stattfinden kann. Weitere Spieltermine sind am 5.12.21 um 16 Uhr. Und wir freuen uns auf weitere Aufführungen im Februar.
Feuilletonscout: Welche Musik haben Sie gewählt† Haben Sie selbst komponiert und arrangiert?
Annea Lounatvuori: Ich bin ziemlich viel Material durchgegangen und habe Kathleen musikalische Ideen geschickt. Die finnischen Liedtexte habe ich so grob übersetzt aber vor allem ging es um die Stimmung. Welche Atmosphäre ein Song transportiert und wie und an welcher Stelle es in der Erzählung passt. Viele von den Sachen haben wir während der Proben gefunden und haben das dann arrangiert. Die improvisierten Sounds, Klangwelten habe ich komponiert. Ich spiele e-Cello mit Effekten durch Bass-Verstärker.
Feuilletonscout: Was ist das Schöne bei der Arbeit mit Kindern als Publikum?
Annea Lounatvuori: Die Ehrlichkeit und die Wärme.
Kathleen Rappolt: Kinder reagieren unmittelbar und sind ehrlich. Sie tauchen in die Geschichten sichtbarer ein als Erwachsene. Bei Erwachsenen Publikum weiß ich oft nicht, wie etwas ankommt, Kinder spiegeln direkt, ob sie etwas mögen oder nicht. Ich schätze auch die Spontanität, mit der sie ihren Gedanken/ Gefühlen Ausdruck geben. Staunen, verbalisieren, fragen etc., da bekomme ich selbst oft neue Bilder. Und Erzählen lebt von diesem unmittelbaren Kontakt, diesem Austausch, denn ich kann das bestenfalls aufgreifen und in die Geschichte einbauen.
Feuilletonscout: Was möchten Sie den Kindern mit auf den Weg geben?
Kathleen Rappolt: Gute Geschichten, Phantasie, Vertrauen in sich und in die Welt.
Annea Lounatvuori: Eine schöne Geschichte und ein schönes Erlebnis mit Nordische Klangwelt.
Vielen Dank für das Gespräch, Kathleen Rappolt und Annea Lounatvuori!
Termine:
4. und 5. Dezember 2021, 16 Uhr
1. bis 4. Februar 2022 und 6. Februar 2022, 16 Uhr
Theater o.N.
Kollwitzstraße 53
10405 Berlin
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