Von Barbara Röder.
„Der Tristan ist und bleibt mir ein Wunder!…“ – Richard Wagner
(Eintrag im Tagebuch für Mathilde Wesendonk)
Ein Premierenabend voller Erwartung
Tristan träumt. Fiebrige Erinnerungen umhüllen ihn. Der Tristan-Akkord – der verheißungsvolle, in die Schluchzer der Celli hineingeborene, zukunftsmusikatmende Lockruf des Sehnens – flirrt und irrt umher. Das Publikum ist unruhig. Das Türeschlagen zu spät kommender Premieren-Gäste, klirrend klimpernde goldene Armbänder der Nachbarin mischen sich in Tristans Wehklagegesang des Orchesters. Ein direkter, authentisch robuster, Klarheit und Sinnlichkeit tönender Klang verheißt Wagner-Wonnestunde. So mag es gewesen sein, damals bei der Uraufführung von „Tristan und Isolde“ 1865 im schmucken Nationaltheater in München. Ebenso atmosphärisch erwartungsvoll scheint das Publikum am Premierenabend von „Tristan und Isolde“ in der Opéra Royal de Wallonie-Liège zu sein.
Denn auch hier träumt Tristan: Nahezu 100 Jahre sind vergangen, seitdem Wagners „Tristan und Isolde“, dem Wagner übrigens die Überschrift „Handlung in drei Aufzügen“ verpasste, als gefeierter Opern-Blockbuster zurückkehrte. 1926 erfüllten die Klänge des „Siegfried“ und die von „Tristan und Isolde“ den heute im italienischen Stil restaurierten, rotgoldenen Theatersaal.



Giampaolo Bisanti entfacht musikalische Leidenschaft
Wunderdirigent des musikdramatisch ausdrucksstarken Abends ist im Jahr 2025 Giampaolo Bisanti. Mit sicherer Hand, hochdifferenziertem Feingefühl, großartiger Partiturkenntnis und dem Wissen um die Wagnersche Klangentfaltung vermochte Bisanti zu begeistern. Der Dirigent geht das Risiko ein, dass das Orchester ab und an rau, brutal klingt. Harte, beißende Klänge lassen aufschrecken. Das Holz tönt wie ein wildes Tier, das auf der Lauer liegt. Keine verschwommenen, unstrukturierten musikalischen Geflechte, kein wohliger Singsang schlägt dem Hörer entgegen. Diese realistisch klare orchestrale Weite birgt viel Wahres, tut der Hörerfahrung des Werkes gut. Es ist die ungebändigte musikalische Entdeckerlust der Partitur, die Bisanti entfacht. Auch dafür werden er und seine brillierenden Musiker, zuweilen Kammermusiker der Opéra Royal de Wallonie, mit Ovationen gefeiert.
„Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe!“ – „Tristan“ (1825),
spätromantisches Lied von August von Platen
Eine Inszenierung zwischen Literatur und Biografie
Regisseur Jean-Claude Berutti, sein Bühnenbauer Rudy Sabounghi und Kostümbildnerin Jeanny Kratochwil bieten dem Auge zum einen eine literarisch durchdrungene, zum anderen eine historisch vom Leben Richard Wagners autobiographisch inspirierte, sehr statisch wirkende Inszenierung. Das Hauptaugenmerk dieser szenisch-dramatischen Tristan-Innenschau liegt in der zu oft in vergangenen Inszenierungen benutzten Krankenstation-Leseart.
Thomas Manns Roman „Tod in Venedig“ und Viscontis gleichnamige Verfilmung mögen ebenso für Beruttis Ideenwelt für diese Inszenierung Pate gestanden haben wie Manns „Tristan“-Erzählung (1903) oder das epochale Meisterwerk „Der Zauberberg“ (1924). Beide Schriften spielen in einem Sanatorium in den Schweizer Alpen.
Wenn der Vorhang sich hebt, blicken wir auf das „Gustav von Aschenbach“-Sterbeszenario aus Viscontis Film „Tod in Venedig“: ein weites Meer im Hintergrund. Ein Thonet-Rollstuhl, in welchem Tristan kauert und von seinen Fieberschüben gepackt wird während des Vorspiels, ist seitlich platziert. Das Schiffsambiente des ersten Aufzugs wird durch Reisekoffer und herabfallende Gaze-Segel und Seile angedeutet. Isolde und Brangäne tragen Kleidung des 19. Jahrhunderts, dem Zeitalter entsprechend, in dem Wagner seine Oper komponierte.
Der zweite Aufzug spiegelt die Garten- und Parkanlage der „Villa Wesendonck“ wider. Wir vermuten es. Denn im September 1857 überreichte Wagner seiner platonischen Geliebten und Muse Mathilde Wesendonck die Urschrift der „Tristan“-Dichtung. Der Exilant Wagner wohnte bei den Wesendoncks im Gartenhaus. Wer jemals aus der Villa Wesendonck in Zürich in den Garten geblickt hat, taucht unweigerlich in Assoziationen ein, wie sie aus dem zweiten Bild der Bühne von Rudy Sabounghi hervorgehen. Julien Soulier zaubert die malerischen, nachttrunkenen Videos: eine kopfstehende grüne Parklandschaft mit Brunnen und einen von van Gogh inspirierten Sternenhimmel. Dieser verschmilzt in Isoldes und Tristans sehnsuchtsbestimmten Zwiegesang „Sink hernieder, Nacht der Liebe“ und Brangänes Ruf „Einsam wachend in der Nacht“.
Im dritten Aufzug wird deutlich, dass Tristan seine letzten Stunden in einem Sanatorium verbringt. Alle Protagonisten tragen Arztkittel. Isolde und Brangäne wandeln sich in Krankenschwestern. Tristans Fiebermonolog, in dem dieser wie Wagner, der sich mit seinem Helden identifiziert hat, sehnsüchtig oft nach dem Land Nirwana blickt, ist szenisch ernüchternd. Dass Isolde und Tristan nie inniglich zusammenkommen, mag wohl die Absicht des Regisseurs gewesen sein. Zwei Einzelschicksale, die nebeneinander lieben und leiden – eine traurige, harte Realität!

(c) J Berger

(c) J Berger – ORW-Liège

Psychoanalyse und visuelle Symbolik auf der Bühne
Eine sehr aparte Idee ist es, dem singenden Tristan einen handelnden „Schattenmann-Tristan“ zur Seite zu stellen oder ins Gesamtgeschehen einzufügen. Das eröffnet eine neue, interessante Dimension in die fast handlungsarme Oper. Der markant agierende belgische Schauspieler Thierry Hellin präsentiert als Tristan-Double jenen Tristan, der Isolde im zweiten Aufzug liebend umgarnt. Hellin verkörpert die materialisierte Erinnerung des leidenden, fieberträumenden Helden. Das macht er mit enormer Eleganz und sieht dabei ein wenig aus wie der Wiener Autor und Seelendoktor Arthur Schnitzler. Das Zeitalter der Psychoanalyse lugt aus einer vergangenen Epoche hervor.
Glutvolles, „Menschliches, Allzumenschliches“ sind in Beruttis Inszenierung nur partiell spür- oder erlebbar. Seine Introspektionen regen aber an, Thomas Manns Klassiker „Tod in Venedig“, „Tristan“ und „Der Zauberberg“ erneut zu lesen, die Filmadaptionen zu sehen oder der gelungene ARD-Hörspielfassung des Zauberbergs zu lauschen. Zumal weltweit der 150. Geburtstag des Wagnerliebhabers und -kenners gefeiert wird.

Isolde (L. Haroutounian) im Liebesgesang mit einem Schatten-Tristan ( T. Hellin). Tristan (M. Weinius) (ist singend in die Erinnerung vertieft) (c) J. Berger – ORW-Liège


Stimmgewaltiges Ensemble auf internationalem Niveau
Sängerisch bieten der Tenor Michael Weinius (Tristan) und Lianna Haroutounian, die ihr beachtenswertes Isolde-Debüt gibt, international hohes Niveau. Darstellerisch bewegen sie sich jedoch sehr an der Rampe und agieren zu statisch. Die nicht immer gelungene Textgestaltung der ersten beiden Aufzüge wird im finalen Aufzug wettgemacht. Weinius gestaltet ausdrucksstark Tristans Sterbemonolog. Haroutounian, als Krankenschwester Tristan umklammernd, überzeugt in Isoldes stilvoll angelegten „Liebestod-Gesang“.
Der Bariton Birger Radde ist Bayreuth-erfahren. Sein exzellenter Wolfram im Heidenheimer „Tannhäuser“ und Melot in Bayreuth haben gezeigt, welch fantastischer Wagnersänger Radde ist. DiesmalKurwenal, Tristans treuer Gefolgsmann. Radde singt mit mitfühlendem Impetus, baritonaler Schönheit und sämiger Geschmeidigkeit. Er ist ein Ausnahmeinterpret! Evgeny Stavinsky gibt den König Marke mit gediegener, bassoraler Noblesse. Violeta Urmana wirkt als Brangäne sehr zurückhaltend sanft und stimmfarblich eher blass. Alexander Marev passt als Melot gut in das Ensemble. Die Partien des Steuermanns sind mit Bernhard Aty Monga Ngoy und des jungen Seemanns und des Hirten gesungen von Zwakele Tshabalala optimal besetzt. Im Oktober 2021 hat Stefano Pace die Intendanz für die Opéra Royal de Wallonie-Liège übernommen. Seitdem beschreitet diese Oper neue Wege: kontinuierlich und wegweisend für Belgiens Opernlandschaft. Zudem schaut sie nach diesem musikalisch betörend guten „Tristan und Isolde“-Erfolg mit ihrem Musikdirektor Giampaolo Bisanti in eine glänzende Zukunft.
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.
“Tristan and Isolde” in Liège: a Wagner evening full of intensity
The premiere of Tristan und Isolde at Opéra Royal de Wallonie-Liège offers an intense Wagner experience. Conductor Giampaolo Bisanti embraces clarity and sensuality while daring to explore raw, harsh sounds. His interpretation fully unleashes Wagner’s score and receives standing ovations.
Jean-Claude Berutti’s production blends literary influences with Wagner’s biography. Elements from Thomas Mann’s Death in Venice and The Magic Mountain shape the stage design, which shifts between a sanatorium, a ship, and the historic Villa Wesendonck. A visually striking addition is the „Shadow Tristan,“ played by actor Thierry Hellin, embodying the feverish memories of the protagonist.
Vocally, Michael Weinius excels as Tristan, particularly in his final death monologue. Lianna Haroutounian debuts as Isolde with a graceful Liebestod. Birger Radde’s Kurwenal impresses with his commanding baritone, while Evgeny Stavinsky lends King Marke dignified presence. Violeta Urmana’s Brangäne remains somewhat vocally subdued.
Since 2021, Opéra Royal de Wallonie-Liège, under Stefano Pace, has been setting new artistic standards. With this musically powerful Tristan, the house looks toward a bright future.