Die Emotionalität dieses Projekts hat alle Erwartungen übertroffen: Aeham Ahmad, ein internationaler Pianist mit syrisch-palästinensischem Hintergrund, Filmmusik-Komponist André Buttler und die Junge Vielharmonie, das hochmotivierte Jugendsinfonieorchester in der Ruhrgebietsstadt Marl überwanden in der Komposition mit dem Titel ABUNUYA viele Grenzen. Mehr als 700 Menschen im vollbesetzten Stadttheater wirkten wie ein wärmender Resonanzraum. Von Stefan Pieper.
Das Wort Abunuya hat keine Bedeutung, denn die Musik soll nur aus sich heraus sprechen. Tonsprache und Klangfarben erzeugen ein raffiniertes Miteinander von Einflüssen aus dem arabisch-osmanischen Kulturraum, „westlicher“ Sinfonik, Jazz und vor allem Filmmusik, in der sich Komponist André Buttler zuhause fühlt. Die sieben Sätze dieser neu geschaffenen Partitur verbinden mächtige Orchestertutti-Passagen mit solistisch-improvisierten Einsätzen des Pianisten Aeham Ahmad, der im Jahr 2016 aus Syrien nach Deutschland floh, nachdem IS-Schergen sein Klavier zerstört hatten, auf dem er in den Ruinen des kriegszerstörten Yarmouk bei Damaskus vor den Menschen auf offener Straße musiziert hatte. Aber das ist lange Vergangenheit. Heute tritt er als vielseitiger Musiker und Autor in Erscheinung, die Kooperation mit einem Sinfonieorchester ist auch für ihn eine aufregende Premiere. Vor allem, weil André Buttlers Partitur bewusst „weiße Flecken“ lässt, in denen Aeham Ahmad spontan und improvisatorisch den Moment feiern darf.
Genug Material für gefühlsintensives Hörkino also – und das schöpften Solist und Orchester von Anfang an mit befreiter Vehemenz aus. Mal geben zarte Streicherteppiche Raum für ergreifende Improvisationen von Aeham Ahmad, Beyza Köse auf ihrer Ney-Flöte und für den syrischen Oud-Virtuosen Sami Mustafa. Aeham Ahmads Klavierspiel mit seiner lässig-überlegenen Anschlagstechnik strotzt vor Vehemenz und Fantasie, was alleine viele Kollegen seiner Zunft auf Anhieb ziemlich alt aussehen lässt. So viel Erlebtes, Empfundenes, auch Erlittenes gibt es in dieser, „seiner“ Musik zu sagen. Und ja – das Theater bebt, als es Solist und Orchester in den vielen, rhythmisch treibenden Power-Stücken immer wieder krachen lassen. Besonders nah kommt diese Musik den Menschen, wenn Aeham Ahmad seine Freiräume improvisatorisch auskostet und nicht selten auch als einfühlsam und kunstvoll Singender zur Höchstform aufläuft. Spontan singt schließlich fast das ganze Theater mit, als er nach ausgedehnten Vokal-Arabesken schließlich in eine direkt zugängliche Melodie einschwenkt.
Abunuya „sagt“ durch seine Anspielungen viel: Beethovens „Ode an die Freude“ erhält durch seine choralartige Umdeutung eine nachdenklichere Diktion. „Die Gedanken sind frei“ ist eines der wichtigsten Lieder aus dem deutschen Kulturraum, sein Postulat aktueller denn je. Hier darf es sich als kolossaler sinfonischer Satz behaupten. Nach einigen melancholischen Umwegen braust schließlich das Starke, Triumphale darin auf – vielleicht wie im Finale einer monumentalen Film-Inszenierung. „Steigerlied goes Bolero“, ja, auch diese minutenlang ausgedehnte Einlage hat Abunuya zu bieten. Ob André Buttler, 1993 in Gelsenkirchen geboren, damit auf den industriellen Strukturwandel im Ruhrgebiet anspielt? Treffsicher hat der junge, in der Filmmusik-Branche extrem gefragte Komponist (und bis Ende dieses Jahres künstlerischer Leiter der Jungen Vielharmonie) die kompositorischen Mittel dosiert, um in diesem Werk mannigfaltige emotionale Anknüpfungspunkte für viele Menschen zu schaffen. Wie umfassend sich dadurch im Marler Theater eine gemeinsame emotionale Schwingung zwischen allen Beteiligten aufbaute, das hat sich wohl kaum jemand vorher träumen lassen.
Das aufnahmebereite, schließlich minutenlang stehend applaudierende Publikum bestand aus Menschen aus allen Altersgruppen und diversen Kulturen und Religionen. So will es das Abrahamsfest, eine jährliche Veranstaltungsreihe seitens der Christlich-Jüdisch-Islamischen Arbeitsgemeinschaft in Marl/Kreis Recklinghausen, die sich durch vielfältige Kulturarbeit für den interreligiösen und gesellschaftlichen Zusammenhalt stark macht.
Konzerte können durch ihre Demonstration von künstlerischer Perfektion faszinieren. Noch wertvoller ist es, wenn sie, – wie hier- zu gelebten sozialen Erfahrungen werden.
Wie tief dies alles wirkte, wie umfassend sich eine gemeinsame emotionale Schwingung zwischen allen Beteiligten aufbaute, das hat sich wohl kaum jemand vorher träumen lassen.
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.
Pingback: „Voyagers“ – Musik, Tanz und Lichtkunst im Theater Marl |