Ursula Weidenfeld spricht in ihrem Geschichtspanorama Das doppelte Deutschland von einer »gemanagten Revolution« und bringt auch ansonsten die ungewöhnliche Geschichte von DDR und BRD publizistisch auf den Punkt. Von Stephan Reimertz.
In ihrer weltoffenen und stilistisch prägnanten Parallelgeschichte 1949 – 1990 geht Ursula Weidenfeld mit den Deutschen und ihren Nachbarn noch einmal die einmalige Doppelgeschichte der beiden deutschen Nachkriegsstaaten und ihrer Vereinigung durch. Dies ist anregend, zumal jeder Leser zu diesem politischen Bilderbogen seine eigenen Anekdoten und Überlegungen beizutragen hat. Als Journalistin in Führungspositionen und Merkel-Biographin bewegt sich Weidenfeld innerhalb der westdeutschen Nomenklatura. Der offiziöse Charakter der »Wirtschaftswoche« und des »Tagesspiegels«, bei denen sie schrieb, haben durchaus zum repräsentativen Duktus der nun vorliegenden Monographie beigetragen, ohne jedoch den Blick der Autorin für Details zu trüben. So steigt sie mit der enthüllenden Beobachtung ein, dass die Geschichte der DDR meist von ihrem ruhmlosen Ende her erzählt wird, jene der BRD dagegen wie ein Bildungsroman.
Ursula Weidenfeld: Klar, präzise, aber wenig überraschend
Pferdefuß ihres Galopps durch fünfzig Jahre deutscher Geschichte ist freilich die Erfordernis, allgemein bekannte Tatsachen wiederholen zu müssen. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass sich Weidenfelds Buch durch Esprit oder überraschende Beobachtungen auszeichnete. Hierzu kann man zu geistvollen Abhandlungen wie Die Deutschen von Johannes Gross aus der Mitte der Sechziger greifen oder zu einer amüsanten Studie wie Glanz und keine Gloria von Hans-Georg von Studnitz aus denselben Jahren, oder aber zu Joachim Fests Studie über die Intellektuellen und die totalitäre Versuchung von 2005, der ebenfalls Autoren aus der DDR einbezieht, wenn man nicht von vornherein die brillanten und lakonischen Dialogen Über Deutschland eines Richard Matthias Müller von 1965 vorzieht; (es ist zu vermuten, der Suhrkamp-Lektor Walter Boehlich steckte dahinter).
Das Museum der doppelbödigen Geschichte
Allerdings besteht ein unübersehbarer Verdienst von Ursula Weidenfelds Buch darin, von der »Stunde Nichts« (Heinrich Böll) bis zu den Tagen der neuen staatlichen Einheit die wichtigsten Asservate aus Ost und West noch einmal Stück für Stück vor Augen geführt und uns geduldig durch das Museum unserer doppelbödigen Geschichte geleitet zu haben. Das Werk eignet sich in seiner gerafften, anschaulichen Darstellung mit vielen Beispielen und Quellen hervorragend als Schulbuch. Auch ist es lehrreich, des einen oder anderen erhellenden Details erinnert zu werden, wie etwa der Tatsache, dass jeder dritte deutsche Kriegsgefangene aus Russland nicht zurückkam, dagegen in französischer Kriegsgefangenschaft nur 2,6 Prozent starben. Jeder wird es mit Interesse lesen, weil er vom jeweils anderen Teil Deutschlands etwas erfährt, das er noch nicht wusste. Welcher ehemalige DDR-Bürger hat etwa schon einmal gehört, dass man unter »fringsen« den Kohleklau in Westdeutschland verstand, da ermutigt von Kardinal Frings?
Manches historische Detail wirft zudem ein Licht auf heutige Verhaltensweisen. So erklärt die kollektive Erfahrung der Carepakete nach dem Hunger der Nachkriegszeit einen Teil der Beißhemmung, die die Deutschen bis heute gegenüber den USA haben, selbst wenn diese ihnen die Energieversorgung wegsprengen und ihre Städte mit Imbissketten verschandeln. Weidenfeld arbeitet den unfairen Systemwettbewerb heraus. Was ein solches Geschichtsbuch freilich nicht einfangen kann, ist die Atmosphäre der jeweiligen Epoche. In den Jahren 1989 bis 1990 hatte beinah jeder Monat seinen eigenen Duft. Dies sind Nuancen, die eher die Literatur bannen kann. Dennoch beeindruckt Weidenfeld immer wieder mit gelungenen Formulierungen, die historische Entwicklungen auf den Punkt bringen, wie: »Die beiden Teile Deutschlands waren im Kalten Krieg angekommen, bevor es sie gab.«
Verpasste Chancen einer Wiedervereinigung
Nun hatte eine mögliche Wiedervereinigung und eine Proklamation Berlins als Hauptstadt schon lange vor 1989 viele Gegner. Weder gab es ein historisches Bezugssystem, an das man mit einer »Wieder-Vereinigung« der beiden in Rede stehenden Teile hätte anknüpfen können, noch passte eine Wiederbelebung des Nationalstaats ins posthistoire des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Vor allem aber hofften viele Menschen auf einen Neustart der DDR im Sinne eines demokratischen Sozialismus; in eine Art grünes Österreich wäre auch mancher Westdeutsche gern umgezogen. Als Alptraum erschien vielen Menschen in Ost und West zudem die Vorstellung, die DDR könne all die Fußgängerzonen, Autohäuser, Schnellimbisskaschemmen, Gewerbegebiete und anderen Gräuel der BRD übernehmen. Leider ist genau das geschehen; man hat die DDR in eine kapitalistische Hölle verwandelt. Wie schön wäre es gewesen, hätte ein neuer Staat ohne Anschluss oder Beitritt, der sich auf die kulturellen Traditionen Deutschlands besinnt, an Humanismus und deutsche Klassik anknüpfen und einen Weg zwischen Ost und West einschlagen können, fern von Kapitalismus wie Parteikommunismus. Ein solcher Ort wäre dem Charakter Deutschlands als Reich der Mitte gerecht geworden.
Die kulturellen Unterschiede zwischen Ost und West
Ist es Ein lebendig Wesen
Das sich in sich selbst getrennt,
Sind es zwey die sich erlesen,
Dass man sie als eines kennt.
Nun ist es leider anders gekommen, und die Folgen dieses Fehltritts baden wir gerade aus. Hängen wir nicht in einer unglückseligen Westbindung fest, die uns daran hindert, zwischen Ost und West zu vermitteln, was eigentlich unsere geographisch gegebene historische Aufgabe wäre? fragen sich viele. Ursula Weidenfeld streift Alternativen kaum. Sie schreibt wie jene Mitschülerinnen, die immer eine 1 bekommen, weil sie von sich geben, was der Lehrer hören will. Allerdings bringt ihr tour d’horizon durch die deutsche Geschichte im Leser manche Erinnerung, manche verlorene Illusion wieder zu Bewusstsein. Die Lektüre wirkt als Stimulans für den, der alles noch miterlebte. Man erinnert sich an die grundsätzlich kritische Haltung der DDR-Bevölkerung ihrer sowjetischen Besetzung gegenüber, während es die Westdeutschen mit ihrem Amerikanismus platterdings ernst meinten. Eine ganze Ebene, die hier im Westen wegfiel; sie meinen’s bis heute ernst und sehen in Facebook, Starbucks, McDonald’s etc. nicht etwa die Beleidigung ihrer zweitausendjährigen Kultur, sondern Geschenk und Gesetz der Götter.
Welcher von beiden ist also der failed state? Besonders traurig ist, dass Weidenfeld im Sinne der offiziösen Benamsung von »Ostdeutschland« spricht. Pommernland ist abgebrannt, und wer dies sprachlich wegquetscht, trägt dazu bei, dass ganze Weltteile und ihr geistige Topographie verdrängt werden und an einer Stelle wiederauferstehen, an der man sie nicht haben möchte. Das ewige Herabschauen auf die Menschen, von West nach Ost: innerhalb Berlins, innerhalb Deutschlands wie Europas ist eine ewige Schmach. Ikonische Momente, die Glanz und Elend der Neubegegnung der Deutschen schlagend ins Bild brachten, wie jene Schlange von DDR-Bürgern vor dem Erotik-Shop »Beate Uhse« am Westberliner Bahnhof Zoo kommen ebenso wenig vor wie jene zahlreichen Swingerclubs, die ab 1990 im Osten aus dem Boden schossen. Hier stillten die DDR-Bürger ihren »Nachhole-Bedarf«. Man kann sagen, dass Etablissements wie dem aus der Westberliner Körnerstraße in Steglitz in die Ostberliner Eginhardstraße in Karlshorst umgezogenen legendären Club »Legeres« des begnadeten Partyorganisators Wolfgang Well (er hat inzwischen das Zeitliche gesegnet), die Orte der wahren »Wieder-Vereinigung« waren. Dessous und Pärchenpartys gab es auch in der DDR. Sahen erstere auch etwas fadenscheinig aus, bestachen letztere durch größere habituelle Lockerheit einer von bürgerlichen Konventionen befreiten Gesellschaft. Auch davon lesen wir nichts bei Weidenfeld. Partywillige Paare trafen sich im Hotel »Metropol« neben dem Bahnhof Friedrichstraße und setzten ihre Unternehmungen zu Hause fort. Die DDR hatte mehr Sex und war wenigstens in dieser Hinsicht, was sie von sich selbst behauptete: »Das bessere Deutschland«.
Ursula Weidenfeld
Das doppelte Deutschland
Rowohlt Verlag Berlin, 2024
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Ursula Weidenfeld: ‘The double Germany’
Ursula Weidenfeld’s book Das doppelte Deutschland explores the history of East and West Germany from 1949 to reunification. It focuses on the cultural and societal evolution of both states, offering precise yet unsurprising insights. She highlights differences in historical narratives: East Germany’s story is often reduced to its fall, while West Germany’s reads like a Bildungsroman.
Weidenfeld emphasizes systemic disparities and the challenges of reunification but avoids deeper reflections on alternatives. She critiques the adoption of Western consumption and lifestyles in the East. Nevertheless, the book provides valuable insights, such as the term “fringsen,” used for coal theft in post-war West Germany.Her fact-driven account serves as an accessible overview, though it lacks the atmospheric depth of literary works. For those who lived through the events, it offers a thought-provoking reminder of personal and national history.