Unter Patrick Hahns Kuratierung wird die Emanzipation vom herkömmlichen Avantgarde-Kanon weiter getrieben. Von Stefan Pieper.
Während so manche Veranstaltungen für aktuelle Musik mühevoll versuchen, ihre Relevanz unter Beweis zu stellen, lieferten die 57. Wittener Tage für neue Kammermusik vom 2. bis 4. Mai unter dem Motto „Upcycling“ schlicht die Gewissheit, dass sie zeitgemäßer denn je sind. Den unbestrittenen Glanzpunkt bildete der Auftritt des Trickster-Orchestra am Samstagabend – vor allem auch, als hinterher der frenetische Beifall seine Emotionen entlud, hatte man das subjektive Gefühl, sich gerade auf dem coolsten Festival des gesamten Planeten zu befinden.
Coolness trifft Konzept
Das Trickster Orchestra schlug eine kraftvolle Bresche für kulturübergreifendes Musikschaffen und zeigte in schillernden Nuancen, was geschieht, wenn die intellektuell geprägte Avantgarde-Szene von frischem Wind durchwirbelt wird. Die Verleihung des WDR-Liminal-Musik-Preises (ehemals „Weltmusikpreis“) an die von Cymin Samawatie dirigierte Formation erschien folgerichtig.

TRICKSTER CONCERT / ONDŘEJ ADÁMEK
Power of Flowers (2001) / Uraufführung
KETAN BHATTI : Dance for Nerds (2025)
Uraufführung: GEORGE LEWIS Nomads (2025)
CYMIN SAMAWATIE Revamp (2025)
Uraufführung TRICKSTER ORCHESTRA featuring WU WEI Sheng
ONDŘEJ ADÁMEK Performance / CYMIN SAMAWATIE Leitung
Im Anschluss: Verleihung des WDR Liminial Music Prize 2025 © WDR/Claus Langer
Hier begegneten sich Holzblasinstrumente östlicher und westlicher Herkunft in einem faszinierenden Dialog mit mächtigem Blech- und Perkussion-Set, um vereint zum Ursprung musikalischen Ausdrucks vorzudringen und dabei voller Neugier das verschlungene Netz jazziger Melodieführungen zu erkunden. Das gemeinsame Improvisieren wirkte dabei als Katalysator, der die Künstler zu außergewöhnlichen Leistungen beflügelte.
Kein Zufall, dass sich in diesem Umfeld auch eine opulente Jazz-Komposition von George Lewis, der vor Ort anwesend war, nahtlos einfügte. Insbesondere das virtuose Solo von Wu Wei auf der Sheng, der asiatischen Mundorgel, löste spontanen, enthusiastischen Beifall aus. Sämtliche Instrumentalisten übertrafen ihre Möglichkeiten, darunter auch die Klarinettistin Annette Maye. In einer zeremoniellen Geste verteilte Cymin Samawatie Blüten – eine poetische Erinnerung daran, dass Klang stets eine spirituelle Dimension trägt.
Konflikte und Klänge
Der auffällige Exodus einiger Konzertbesucher mittendrin kann durchaus als Qualitätsmerkmal eines Festivals für experimentelle Musik gelten, das dem akademischen Gehabe der etablierten Szene die pulsierende Energie des Unmittelbaren entgegenstellt. Genau solche Impulse braucht es – vor allem, weil sie künstlerische Exzellenz in keiner Weise ausschließen.
Bereits die Eröffnungsveranstaltung zeigte die Innovationskraft des kuratorischen Konzepts unter der künstlerischen Leitung von Patrick Hahn: Das Ensemble Musikfabrik und das Ensemble Scope boten mit der Darstellerin Ria Rehfuß eine Darbietung von beeindruckender Intensität. Verschiedenartige Stilrichtungen – von elektronischen Soundscapes über orchestrale Strukturen bis hin zu Noise-Elementen – verschmolzen zum verstörenden, atemlosen, wuchtigen Ganzen. Die vielschichtige Inszenierung reflektierte kritisch die mediale Repräsentation von Gewalt und deren gesellschaftliche Auswirkungen.
Improvisation als Antrieb
Der programmatischen Linie folgend, stellte das Festival mit Cassandra Miller eine Komponistin ins Zentrum mehrerer Konzerte – ein kluger Schachzug, der den Zuhörern einen echten Verständnisgewinn ermöglichte. Ihre musikalische Sprache widerlegte nachdrücklich das verbreitete Vorurteil, zeitgenössische Kompositionen entzögen sich dem natürlichen Empfinden. Durch die systematische Integration der vollständigen Obertonreihe erschuf Miller einen Klangraum von direkter Sinnlichkeit. Die facettenreichen Interpretationen, nicht zuletzt durch das Kuss-Quartett, eröffneten akustische Dimensionen, die über das momentane Hörerlebnis hinausreichten.

MÄRKISCHES MUSEUM / WITTENER SEUFZER
JOHANNES KREIDLER Wittener Seufzer
Lecture Performance zur Ausstellung im Märkischen Museum
JOHANNES KREIDLER und GIORDANO BRUNO DO NASCIMENTO Performance
© WDR/Claus Langer
Klang mit Körper
Johannes Kreidlers Performance „Wittener Seufzer“ erwies sich als unterhaltsames Happening, dessen künstlerische Substanz jedoch stellenweise im Klamauk verharrte. Ein Death-Metal-Vokalist artikulierte archaische Laute, während sein Partner Namen von AfD-Politikern rezitierte. Das anschließende akustische Duell mit einem Laubgebläse ließe sich als Persiflage auf geistiges Kleingärtnertum deuten – die Interpretation blieb allerdings jedem Besucher selbst überlassen. Immerhin: Ausreichend Bewegung entstand im Märkischen Museum.
Der Abschluss mit dem WDR Sinfonieorchester unter Elena Schwarz geriet zum Triumph für den Cellisten Nicolas Altstaedt. Mit expressiver Gestik brillierte er in Malika Kishinos Cellokonzert. Sein grundierter, voller Klang – sein charakteristisches Merkmal – elektrisierte das gesamte Ensemble. Den finalen Akzent setzte wiederum Cassandra Miller mit „BISMILLAH MEETS THE CREATOR IN SPRINGTIME“, das sie zusammen mit Silvia Tarozzi auf der Bühne realisierte. Aus dekonstruierten Elementen erwuchsen frei florierende akustische Biotope von tiefer poetischer Textur, die das Publikum in ihren emotionalen Bann zogen.
Nähe zur Utopie
Patrick Hahns kuratorische Vision, gekennzeichnet von globaler Offenheit, hat die Bedeutsamkeit der Wittener Tage in der Gegenwart nachhaltig konsolidiert. Beachtenswert war zudem die Beteiligung von Künstlern aus Nordrhein-Westfalen – allen voran bei der spektakulären Musikfabrik-Aufführung zum Auftakt –, wodurch das schöpferische Potential der Region angemessen gewürdigt wurde. An diesen drei Festivaltagen konnte man sich nicht satthören an all jenen experimentellen Ansätzen, für die im konventionellen Musikbetrieb mit seiner Risikoscheu kaum Spielraum existiert. Die bemerkenswerte Anwesenheit junger Besucher unterstrich die neue Zugänglichkeit einer Veranstaltung, die zeitgenössische Musik in ihrer mannigfaltigen, dynamischen und intellektuell anspruchsvollen Komplexität darbietet – was jedoch so nahbar wie nie zuvor wirkte.
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Wittener Tage: Avant-garde comes audibly to life
The 57th Wittener Tage für neue Kammermusik, held under the motto “Upcycling,” demonstrated their continued relevance in 2025. A clear highlight was the Trickster Orchestra, blending Eastern and Western instruments with jazz-inflected textures to create a transcultural soundscape. The WDR Liminal Music Prize awarded to the ensemble led by Cymin Samawatie felt thoroughly deserved.
The festival opened with Ensemble Musikfabrik and Ria Rehfuß, delivering an intense performance reflecting on media violence. Composer Cassandra Miller was a central figure, her sensual musical language—based on overtone structures—beautifully interpreted by groups such as the Kuss Quartet.
Johannes Kreidler’s performance “Wittener Seufzer” oscillated between irony and satire. The closing concert with the WDR Symphony Orchestra and cellist Nicolas Altstaedt was a triumph, featuring Kishino’s powerful cello concerto and Miller’s poetic “BISMILLAH MEETS THE CREATOR IN SPRINGTIME.”
Under Patrick Hahn’s artistic direction, the festival revealed itself as open-minded, courageous, and globally connected—with strong participation from young audiences. In Witten, contemporary music emerged as an art form both intellectually complex and surprisingly accessible.