Auf meinen Spaziergängen durch das Seizième in Paris und nach Passy gehe ich oft ins Balzac-Haus. Neulich fragte mich dort ein alter Herr, dem ich mich als Deutscher zu erkennen gab: Gibt es auch einen deutschen Balzac? Bisher nicht, erwiderte ich. Aber es gibt einen Schriftsteller in Deutschland, der das Zeug dazu hat. Von Stephan Reimertz.
Wir standen in jenem Zimmer, auf dessen Wänden die Stammbäume der Figuren aus der comédie humaine ausgebreitet sind, all die Rastignacs, Vater Goriots, Eugénie Grandets, Mlle Xs, Louis Lamberts und all der anderen.
»Hat Ihr
Balzac in Deutschland auch soviel Figuren erschaffen?«
»Er ist auf dem Weg dahin. Was ihn mit Balzac und anderen französischen
Schriftstellern verbindet, von den deutschen Autoren hingegen unterscheidet,
ist seine Klarsicht der Gesellschaft. Stefan Moster – so heißt unser
Schriftsteller – leuchtet die soziologischen Verhältnisse mit Neonlicht aus.
Wir lernen seine Figuren stets als Protagonisten eines bestimmten Milieus kennen.
Das verleiht seinen Romanen Relief. Die meisten anderen deutschen Romanciers
stochern im Nebel ihrer eigenen soziologischen Instinktlosigkeit, die einem
französischen Leser unverständlich bleiben dürfte. In germanischen Zeiten haben
die Deutschen mit dem Vieh im selben Raum gelebt. Da kam ihnen der Sinn für
soziale Distinktion abhanden. Der deutsche Schriftsteller Hermann Hesse hat das
in einem Gedicht geschildert, das mit den Worten Seltsam, im Nebel zu wandern! beginnt. Allein das Nebulose der deutschen
Literatur, die oft an einem Utopos spielt, ist darin ausgedrückt, wenn auch
unfreiwillig.«
»In Stefan Mosters Romanen dagegen lernen wir die deutsche Gesellschaft kennen.
Nehmen Sie den Roman Lieben sich zwei,
der vor acht Jahren erschien und den ich sehr bewundere. Es geht zunächst um
ein Paar mit unerfülltem Kinderwunsch. Nach und nach fächert der Autor die
ganze Soziologie einer Mittleren Mittelschicht, die in die obere Mittelschicht
vordringen will, und der Bobos einer deutschen Stadt auf, in diesem Fall
Hamburgs. Mosters erster Roman wiederum hieß Die Unmöglichkeit des vierhändigen Spiels; da lässt der Autor
Mutter und Sohn das Welttheater einer Kreuzschifffahrt und seiner Passagiere
beobachten; aus ihrem prekären Winkel heraus. Der Autor hat stets einen Blick
für Tausende von Details und deren soziologische Bedeutung, ein absolutes Gehör
für die Tonfälle der verschiedenen Milieus und Submilieus. Die Lektüre von
Pierre Bourdieu können Sie sich künftig sparen.«
Ein Romancier ist der bessere Soziologe
»Die
habe ich mir auch bisher erspart. Jeder Franzose ist ein Soziologe. Wozu Bourdieu?«
»Ein guter Romancier ist stets der bessere Soziologe«, sage ich und ziehe das
orange leuchtende neue Buch von Stefan Moster aus der Tasche. »Alleingang, also etwa: course solitaire, heißt der neue Roman
von Moster. Er führt uns nun zur Abwechslung in Schnittstellen zwischen
mittlerer und unterer Mittelschicht. Die meisten Schriftsteller haben in diese
Sphäre ihr Lebtag keinen Fuß gesetzt. Sie kennen die untere Mittelschicht nur
insofern, als sie so tun müssen, als kämen sie aus derselben, um bei Lektoren
und Verlagen akzeptiert zu werden. Der erste, der das begriffen hat, war
Bertolt Brecht. Der Sohn eines Arztes und Unternehmers lief in Lederjacke und Schiebermütze
herum, damit man glaubte, er stamme aus dem Proletariat. Ein gewisses Getue und
Kraftmeierei kam hinzu. So schrieb er in den Zwanziger Jahren einige
Kurzgeschichten, in denen Boxer vorkommen.«
Epos der Unteren Mittelschicht
Ich
schlage das Buch auf einer Zufallsseite auf. »Ha! Hier haben wir eine Stelle,
wo der Autor mit einer Aussage über eine seiner Figuren zugleich seine eigene
Poetik umreißt: „Nichts war Hartmann zu gering, denn alles, was passierte,
hatte damit zu tun, wie die Menschen sich die Welt einrichteten, und das war
es, was ihn vor allem interessierte.“ In Mosters Geschichte spielt ein Junge
namens Freddy die Hauptrolle, der in den siebziger Jahren als Prolo in einer WG
von zwei Studentenpaaren lebt. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes das Fünfte
Rad am Wagen, und er tut alles, um von seinen Freunden akzeptiert zu werden.«
»Das kann nicht gut ausgehen.«
»Tut es auch nicht. Freddy verliert den Boden unter den Füßen und driftet in
die Kleinkriminalität ab. Ganz dramatisch in einem großen Coup, mit dem er
versucht, mit seinen Freunden finanziell gleichzuziehen, macht es unser Autor
aber nicht. Schließlich heißt er Stefan Moster und nicht Dashiell Hammett.«
Die Handschrift des Dichters
»Seine Freunde dreschen Phrasen aus der ihnen vorangegangenen Generation von `68. Es sind also Post-Achtundsechziger, die keinen eigenen Stil gefunden haben und die auch keinen finden werden. Stefan Moster charakterisiert diese Alterskohorte in einem einzigen Satz: „Hast du jemals selbst ein Ziel gewählt, Freddy? Oder bist du immer nur mitgefahren?“ Sein Roman frappiert durch eine Fülle meisterlicher Details. So besitzt das Buch nebenbei so etwas wie eine Philosophie der Gegenstände. Als der Protagonist zum ersten Mal einen handgeschriebenen Brief erhält, öffnet er ihn: mit einem Korkenzieher!«
»Darauf kommt ein mittelmäßiger Autor gar nicht.«
»Nein, das ist ein Dichter!«
Stefan Moster
Alleingang
mare Verlag, Hamburg 2019
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