Die Veröffentlichung zum ersten Todestag des Schweizer Schauspielers Bruno Ganz am 16. Februar 2020 sei jedem ans Herz gelegt, findet Ingobert Waltenberger.
Wer Bruno Ganz auf der Bühne erlebt hat, wird seine Präsenz und wunderbar timbrierte Stimme wohl nie vergessen. Prägend war für mich persönlich seine Mitwirkung in „Coriolan“ von Shakespeare bei den Salzburger Festspielen 1993 (Regie Deborah Warner) in der Felsenreitschule. Der etwas heisere, ein wenig nuschelnde Ton garniert mit einem Anflug von typischen schweizerischen ‚ch‘, ‚rrr‘ und Vokalfärbungen geben die individuelle unverwechselbare Grundierung für eine vox humana, die mit ihren Stimmtönungen und ihrer Sprachmelodie die jeweilige seelische Disposition der dargestellten Figuren höchst empathisch zu vermitteln vermag. Dazu kommt eine erzählerische Gabe sondergleichen. Plastisch erstehen vor unserem Ohr die handelnden Personen eines in Monsterballadenform gehaltenen Sozialdramas. Vielschichtig wie eine Orgel vermag Bruno Ganz die Tonlagen und Sprachharmonien danach zu steuern, wen er gerade zeichnet, welche Situation er beschreibt, welche Verse er in Klang wandelt.
Nach einer Reihe von Konzert-Lesungen entschlossen sich Bruno Ganz und Kirill Gerstein also mit „Enoch Arden“ ins Studio zu gehen. Die vorliegende Einspielung stammt vom August/September 2016, aufgenommen in den Traumton Studios Berlin.
Erstaunlich, wie reduziert Richard Strauss den als Stimmungsinseln hauptsächlich vor und nach größeren Textbrocken gehaltenen Klavierpart angegangen hat. Wer glaubt, dass das Märchen ständig oder überwiegend mit Musik unterlegt ist wie bei so vielen Melodramen, irrt gewaltig. Hochromantisch in der Anlage und dennoch knapp werden die Natur, das Meer, der Wind, die Wellen, im Nussbaum spielende Kinder, das Palmenrauschen einer Südsee-Insel, die Idylle am Feuer als musikalische Genreszenen charakterisiert. Kein Meisterwerk, aber eine weniger bekannte Facette des großen Opernkomponisten wird hier erfahrbar. Kirill Gerstein erledigt diesen Part des Albums mit gewohnter pianistischer Bravour, ohne dabei die zarteren, gebrocheneren Töne außer Acht zu lassen.
Im Zentrum der Betrachtung steht jedoch das Wort. Die erstklassige, von Bruno Ganz adaptierte viktorianische Verserzählung des Alfred Lord Tennyson, basierend auf einer Fabel des persischen Dichters Omar Chayyam, kann von der Qualität her mit den Spitzenschöpfungen von Schiller und Goethe mithalten. Auch wenn das Sujet der Ballade eine banale dörfliche Dreiecksgeschichte zwischen Enoch, Philipp und Annie ist, gehen die Schicksale der unter Naturgewalten, körperlichen Gebrechen leidenden und mit (edlen) Charakteren punktenden Protagonisten doch zu Herzen. Nach einem Sturz geht der Fischer Enoch auf See, um mit der harten Arbeit auf einem Handelsschiff seine Familie durchbringen zu können. Einen Schiffbruch erlitten und zehn Jahren auf einer einsamen Insel verbracht, kann Enoch Arden schließlich nach England zurückkehren. Annie hat inzwischen Philipp geheiratet, Enoch als ‚Eremit‘ mit gebrochenem Herzen verzichtet in einem Akt völlig selbstloser Liebe darauf, das neue Glück seiner Frau und seiner zwei Kinder zu zerstören. Unerkannt lebt er in der Dorfgemeinschaft bis zum Sterben, kurz bevor er sich offenbart. Unserem Helden werden eigentlich ganz nach romantischem Idealismus Überkräfte abverlangt. Liebesglück und Verzicht bilden jedoch als fassbarere Maßstäbe (ähnlich wie im Rosenkavalier) die beiden tragenden Motivsäulen der Titelfigur.
Richard Strauss schrieb Enoch Arden im Jahr 1897 während der Arbeiten zu „Don Quixote“ für den Schauspieler und Theatermann Ernst von Possart. Das in München uraufgeführten Stück wurde von beiden Künstlern auch auf Tourneen vorgeführt.
Das vorliegende Album sei vor allem wegen der hohen Kunst des Bruno Ganz Groß und Klein gleichermaßen ans Herz gelegt.
Vergleichseinspielungen Richard Strauss Enoch Arden – Melodram op.38
Dietrich Fischer-Dieskau (Sprecher), Gerhard Oppitz (Klavier); Hänssler
Claude Rains (Sprecher), Glenn Gould (Klavier) in englischer Sprache; Columbia Records
Enoch Arden
Bruno Ganz (Sprecher)
Kirill Gerstein (Pianist)
Richard Strauss (Komponist)
Myrios (Harmonia Mundi), 2020
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Ich freue mich sehr auf diese Aufnahme, da ich Bruno Ganz immer sehr geschätzt habe. 1999 hatte ich ihn gefragt, ob er in der Berliner Philharmonie zum 50. Todesjahr von R. Strauss dieses Werk zusammen mit mir aufführen wolle. Er lehnte es damals ab mit der Begründung, dass er unmusikalisch sei und nicht dafür geeignet. Am 8. September 1999 habe ich dann mit Otto Sander, mit seiner unverwechselbaren Stimme so passend zu dieser dramatischen Seemansgeschichte, beim Konzert im KMS der Philharmonie das Werk aufgeführt. Die beiden großartigen Künstler beobachten die Menschheit jetzt vom Himmel über Berlin.