Literatur kann uns unterhalten, zum Nachdenken anregen, ablenken vor allem aber in fremde Welten entführen – seien es fiktionale oder reale. Rezension von Birgit Koß.
Anna Pawlowna Nerkagi wurde 1951 in der Baidarata-Tundra des Polar-Urals in Nordwestsibirien/ Russland geboren. Sie gehört zur Minderheit der Nenzen, einem indigenen Volk von etwa 45 000 Personen, das hinter dem Polarkreis in der unwirtlichen Tundra bis heute noch weitgehend als nomadische Rentierzüchter lebt. Bereits 1977 debütierte sie als Schriftstellerin mit einer autobiographischen Erzählung. Nun ist erstmals ein Roman von ihr als erste nenzische Schriftstellerin überhaupt ins Deutsche übersetzt worden. Sie schreibt auf Russisch, auch wenn die Nenzen eine eigene Sprache und dem Kyrillischen verwandte Schrift haben.
Die Autorin erzählt die Geschichte des jungen Aljoschka, der mit seiner Mutter das traditionelle Leben eines Rentierzüchters führt. Sein Vater ist früh verstorben. Die Mutter ist müde von ihrem anstrengenden Leben und wünscht sich, dass eine junge Frau die Aufgaben im Tschum, einem kegelförmigen Zelt, dem traditionellen Wohnort der Nenzen, übernimmt. So sucht sie für ihren Sohn eine rechtschaffende Braut. Doch Aljoschka hat sich vor Jahren heimlich in die Tochter seines Nachbarn Petko verliebt. Allerdings war diese seit sieben Jahren nicht mehr bei ihrem Vater. Selbst zur Beerdigung ihrer Mutter ist sie nicht gekommen. Somit findet die Hochzeit statt, aber Aljoschka weigert sich die Ehe wirklich zu vollziehen und stürzt damit nicht nur die junge Frau, sondern auch seine Mutter in ein großes Unglück. Aljoschka sucht sein ganz persönliches Glück oder träumt zumindest davon, was nicht zur Tradition der Nenzen passt. Hier gilt nach wie vor eine strikte Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau. Während die Männer für die Rentiere, die Schlitten und den Erhalt der Tschum zuständig sind, gelten die Frauen, als die „Herrin“ des Feuers, sie sorgen für die Kinder, das Essen, die Kleidung.
Ganz behutsam mit Innigkeit und viel Poesie erzählt Anna Nerkagi diese unglückliche Liebesgeschichte und spannt dabei einen großen Bogen über die Lebensweise der Nenzen und den Einbruch der sogenannten Moderne.
„Ob man strauchelt, kriecht oder kraxelt – man muss vorankommen. Der Schlitten des Lebens kann ächzen, in Schieflage geraten gegen Stock und Stein stoßen, wie auch immer – er muss vorankommen. Deshalb saß jetzt auch das Mädchen am Ofen, das eine Frau werden sollte. Sie sollte dem Feuer und dem Tschum das Leben geben. Was soll man sagen… Die Menschen des Nomadenlagers haben klug gehandelt. Aber was sollte er, Aljoschka, nun machen?“
Langsam, im ruhigen Fluss entwickelt sich die Geschichte über ein Jahr lang und bezieht auch die Nachbarn des Nomadenlagers mit ein, das im Sommer auf Wanderschaft geht. In einem vierzehnseitigen Anhang „dem kleinen ABC des nenzischen Lebens“, werden viele Begriffe ausführlich erklärt. Wir erfahren etwas über die Glaubenswelt dieser Menschen, die mit vielen Widrigkeiten der Natur zu leben gelernt haben, über ihre besondere Verbindung zu ihren Rentieren, über ihren Alltag und die Veränderung durch den Kontakt nach außen. Viele Vorstellungen und Gebete der Nenzen sind von der Natur geprägt. So betet Aljoschkas Mutter nach der Hochzeitszeremonie „Mögen die Treue des Adlers und die Zärtlichkeit des weißen Schwans einziehen. Der böse Wind des Neids möge das Nest nicht auseinanderreißen, der aasfressende Rabe halte sich fern und zerhacke nicht das Glück des Sohnes“.
Eine ruhige, aber bewegende Geschichte aus einer komplett fremden Welt. Ergänzend zu den sprachlichen Bildern der Autorin stehen am Anfang des Buches acht eindrucksvolle Schwarzweißfotos des bekannten brasilianischen Fotografen und Umweltaktivisten Sebastiao Salgado, in denen er auf seine unnachahmliche Weise die Lebensbedingungen der Nenzen proträtiert hat.
Anna Nerkagi
Weiße Rentierflechte – Mit Fotos von Sebastiao Salgado
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