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Salzburger Festspiele 2024: „Hamlet“

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Das Museumorchester Salzburg spielt in der Fürsterzbischöflichen Sommerreitschule unter der Leitung von Bertrand de Billy die große Shakespeare-Oper von Ambroise Thomas. Stéphane Degout bezwingt das Publikum als ungewohnt entschlossener Dänenprinz. Die lyrische Koloratursopranistin Lisette Oropesa gibt die Ophélie, Wahnsinnsarie inbegriffen. Von Stephan Reimertz.

Ein Komponist, der heutzutage den Hamlet vertonte, wäre entweder wahnsinnig oder Wolfgang Rihm. Im Zweiten Kaiserreich fiel einem Tonsetzer ein solcher aus Historismus und Grandiosität gemischter Griff nach der Weltliteratur schon leichter. Wenn je ein Opernhaus Opern hervorgebracht hat, dann jenes in Paris, das sogar dem größten Feldherrn aller Zeiten vom Wiener Stehplatz einen Besuch während der wenigen Stunden seines Aufenthalts in der französischen Hauptstadt wert war. Wer sich in dieser gigantischen Muschel aufhält, fühlt sich wie im Zentrum des Universums. Kein Wunder, wenn sich auch Großmeister Ambroise Thomas gedacht hat, dass der überdimensionalen Uterus ein Monster gebären muss, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Seine Hamlet-Oper folgt allerhöchsten Ambitionen. Kapellmeister Bertrand de Billy und das Museumorchester Salzburg sind ihnen in der Fürsterzbischöflichen Sommerreitschule in Salzburg voll und ganz gerecht geworden und haben, wie einst der Komponist, alles gegeben.

Hamlet als Tatmensch Dabei gelang es dem Weltklasseorchester, die historisch einzigartige Ambivalenz sichtbar zu machen, von der ein Tonmaler am Ende des Zweiten Kaiserreichs getragen, aber eben auch eingeengt war. Einerseits sollte der cäsarische Anspruch des dritten Napoleon in der gesamten Gesellschaft, und besonders in der Kunst, fühlbar werden, andererseits sollten Mäßigung und Dezenz alles zusammenhalten. In jenen Jahren erhielt Paris sein heutiges Antlitz. Kunstwerke von eigenartigem Hellenismus entstanden. Sensible Zeitgenossen trauerten dem alten Paris nach.

Die Version des Hamlet von Ambroise Thomas könnte ein Literaturkenner als oberflächlich, dekorativ und vordergründig bezeichnen und behaupten, William Shakespeare würde sich angesichts solcher Veroperung in seiner letzten Ruhestätte in der Hl. Dreifaltigkeitskirche zu Stratford im Grabe umdrehen. Demgegenüber können Sie geltend machen, dass Oper ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten hat und sich vom literarischen Vorbild lösen muss. Sie können auf Beispiele verweisen, in denen der Komponist beinah die Augenhöhe Shakespeares erklommen hat, wie Verdi im Falstaff oder Reimann im Lear. Mit solcher Ambition traten auch die Sänger in Salzburg an, allen voran der Titelheld, den Stéphane Degout als heroischen Bariton anlegte und mit männlicher, geradezu schneidiger Erscheinung und sensibel anpassungsfähiger, dabei jederzeit voll präsenter Gesangsgestaltung einen Tatmenschen als Gegenbild zu dem bekannten Zögerer der Dichtung hinstellte.

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Hamlet 2024: Lisette Oropesa (Ophélie), Mozarteumorchester Salzburg
© SF/Marco Borrell

Huldigungen an die deutsche Romantik

Der Freund der Dichtung wird Ihnen vorhalten, dass die Komplexitätsreduktion des Librettos gegenüber der Vorlage in diesem Fall etwas weit gegangen sei und von der vielschichtigen und verschlungenen Historie nur ein abgenagtes Skelett übrig lasse. Und Hamlet zum König zu krönen statt ihn sterben zu lassen, das geht gar nicht. Demgegenüber können Sie auf die Vorteile der geradezu novellistischen Straffung hinweisen, welche den Kern der Historie herausschält und sich ganz vorzüglich zur Einführung in Shakespeares Stück eignet. Tatsächlich sollten Jugendliche als eine Art Propädeutik zuerst diese Oper sehen, um sich sodann weiter in die unauslotbare Dichtung zu begeben, mit der niemand fertig wird.

Bertrand de Billy und dem Museumorchester mit Philharmonia Chor Wien gelang in der nierenförmig umgebauten Reithalle in Salzburg die nachgerade modellhafte Verdeutlichung einer Partitur, die mit spätmittelalterlichen Kruditäten nichts, elisabethanischem Klassizismus einiges und französischer Leichtigkeit und Eleganz sehr viel zu tun hat. In angelegentlicher Beschwingtheit und Stimmung wurde diese in all ihrer Beschränkung doch originelle Musik präsentiert und erreichte filterlos das begeisterte Publikum. Freilich waren Verdi und Wagner in den 1860er-Jahren schon einen bis zwei Schritte weiter, während Thomas sich im Bezug auf die Avanciertheit des musikalischen Materials etwa auf dem Niveau von Tannhäuser, Lohengrin und Rigoletto befand. All dies klingt dann auch an, wobei der holde Abendstern gleich dreimal aufgehen will. Allerdings hat die dänische Hofgesellschaft bei Ambroise Thomas jenen Champagner im Blut, der ihr im Globe Theatre wohl abgegangen ist, nicht zu reden vom Königshof in Helsingør. Den Zügeln, die der Komponist sich anlegt, entschlüpft er immer wieder durch abwechslungsreiche Rhythmik, kantable Solostellen, etwa des Englischhorns und der Klarinette, sowie, für den deutschen Zuhörer schmeichelhaft, Anklänge an die deutsche Romantik, namentlich Carl Maria von Weber, in die auch der Chor waldbegeistert einstimmt.

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Hamlet 2024: Stéphane Degout (Hamlet), Mozarteumorchester Salzburg
© SF/Marco Borrelli

Mutter und Sohn in Engführung

Die Reduktion des Personals auf den Prinzen, seine Geliebte, ihren Bruder und Vater sowie die fürchterliche Mutter, den Geist des Gemordeten und wenige Nebenfiguren macht die Oper zu einer Art überdimensioniertem Kammerspiel. Clive Bayley gibt den Geist von Hamlets Vater, der hier mehrfach auftritt, mit mahnendem, nachgerade unheilvollem Bass aus einer der Logen der Reitschule. Die ungewöhnliche Architektur des siebzehnten Jahrhunderts ist wiederum geschickt einbezogen. So findet ein oft angerührter Gong seinen Platz ebenfalls in einer der Logen, von denen aus die Gäste des Salzburger Fürsterzbischofs seinerzeit dem Pferdeballett zuschauten. Jean Teitgen als unrechtmäßiger König Claudius und Ève-Maude Hubeaux als frevelhafte Gattin Gertrude verkörpern schon in ihrer Art zu gehen und sich zu bewegen ein illegitimes Königspaar, was wiederum beweist, dass eine konzertante Aufführung auch szenisch voll und ganz ausreichend sein kann und Andeutung oft wirkungsvoller ist. Ein dramatischer und musikalischer Höhepunkt ist die geradezu schmerzliche Auseinandersetzung zwischen Sohn Hamlet und Mutter Gertrude. Stéphane Degout und Ève-Maude Hubeaux verkörperten den aus jeder Familie bekannten unlösbaren Streit mit gnadenloser, sängerisch dichter Konsequenz. In höchster Begeisterung feierte das Publikum Lisette Oropesa, als sie die Wahnsinnsarie der Ophelia in ebenso glasklarer wie erschütternder stimmlich-szenischer Gestaltung zelebrierte und die Zuhörer fühlen ließ, wie sehr Ambroise Thomas hier Gaetano Donizetti und seiner Lucia di Lammermoor huldigt.

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Hamlet 2024: Ève-Maud Hubeaux (Königin Gertrude), Mozarteumorchester Salzburg
© SF/Marco Borrelli

So kann man’s auch machen

Im vergangenen Sommer sind wir Mitteleuropa und seiner Hitze geflohen und haben sowohl Bayreuth als auch Salzburg geschwänzt. Dafür trat uns beim Shakespeare-Festival in Cambridge bei angenehmen 24 Grad Celsius ein vollkommen anderer Hamlet entgegen als heuer in Salzburg. In der Leprösenkapelle der alten Universitätsstadt spielte Richard Spaul alle Rollen vor kreisförmig um ihn gruppierten anderthalb Dutzend Zuschauern. So kann man’s auch machen. Allein die Gedächtnisleistung des 1959 in London geborenen Schauspielers war frappierend, sodann seine Wandlungsfähigkeit. Spaul hat sich sein Leben lang mit Shakespeares Meisterstück auseinandergesetzt und z. B. 1987 den Claudius im Film gespielt. Bereits 1980 hatte er das Cambridge Experimental Theatre gegründet. Denkwürdig an dem Spielort, der 1125 errichteten Leprösekapelle, ist zudem, dass diese älter ist als Shakespeares Stück und selbst eine seiner Quellen. Zwei denkbar extrem entgegengesetzte Auffassungen des Hamlets binnen eines Jahres!

Die konzertante Salzburger Festspielaufführung versetzte uns in ihrer musikalischen Vollendung in die letzten Jahre des Zweiten Kaiserreichs, und mancher Zuschauer wird im Geist von Hamlets Vater, wie ihn Clive Bayley so furchterregend und gütig zugleich verkörpert, ein Inbild des zweiten Napoleons gesehen haben.

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Salzburg Festival 2024: “Hamlet”

The Salzburg Museum Orchestra, conducted by Bertrand de Billy, performed Ambroise Thomas’s Shakespeare opera „Hamlet.“ Stéphane Degout impressed as a determined Danish prince in the title role, while Lisette Oropesa captivated the audience as Ophélie with her mad scene aria.

Thomas’s „Hamlet,“ composed during the Second Empire, reflects the era’s ambivalence: the Caesarean ambition of Napoleon III and an art balancing grandeur and moderation. Bertrand de Billy and the Salzburg Museum Orchestra met the musical demands perfectly. The performance in Salzburg’s Prince-Archbishop’s Summer Riding School emphasized a blend of French elegance and German Romanticism.

Reducing the story to a few main characters and a focused presentation makes the opera an intense chamber drama. The dramatic confrontation between Hamlet and his mother, Gertrude, was particularly intense, performed by Stéphane Degout and Ève-Maude Hubeaux.

This production contrasted with a minimalist performance at the Shakespeare Festival in Cambridge, where Richard Spaul played all roles in an intimate setting. These contrasting interpretations of „Hamlet“ demonstrate the diversity in how Shakespeare’s work can be perceived. While the Salzburg production transported the audience to the world of the Second Empire, the Cambridge performance offered a modern, experimental perspective. Both performances provided unique approaches to one of the world’s greatest literary works.

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