In Memoriam Erika Zaderer (1924 – 2024).
Von Stephan Reimertz.
Man schaute sie an. Inmitten des farbenprächtigen Almauftriebs einer Festspielpremiere konnte niemand sie übersehen. Gegen die Edeldirndln wie die Kreationen der Top-Couturiers vor dem Festspielhaus setzte sie sich mit ihrem eigenen unverkennbaren Stil ab. Sie war freilich schon eleganter geboren als die meisten der oft doch so schönen und jungen Festspielbesucherinnen. Wenn das Wort Kultur-Adel überhaupt einen Sinn hat, so fand es ihn in Erika Zaderer. Ihre hohe, was Literatur, Musik und namentlich die Oper angeht, nachgerade unerschöpfliche, Bildung wie auch die selbstverständliche Nonchalance und Noblesse ihres Auftretens, machte sie nicht nur zur bewunderten Stil-Ikone der Festspielstadt, sondern auch zur zuverlässigen Gewährsfrau in allen Fragen der musikalischen und namentlich musiktheatralischen Interpretation.
So umfangreich ihr literarisches Wissen auch war, den großen amerikanischen Epikern von der Mitte bis zur zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts gehörte doch ihre Vorliebe. Wie oft habe ich sie Henry Miller und Thomas Wolfe rühmen hören! Dabei war ihr Gedächtnis frappierend und unbestechlich. Manche Pausengespräche oder auch Erörterungen zwischen uns im Caféhaus hätte der ORF für seine Opernsendung am Samstagvormittag mitschneiden können. Das angenehme für mich war, dass wir in Beurteilungen fast immer übereinstimmten, so dass ich sie öfter in die Premiere vorgehen ließ und meinen Besuch von ihrem gehobenen oder gesenkten Daumen abhängig machte. Meist aber trafen wir uns zuverlässig in jeder Opernpremiere, so dass eine Verabredung ebenso wenig nötig war wie im Café Bazar, in dem man sie abends so sicher antraf wie Immanuel Kant in Königsberg morgens auf dem Weg zur Vorlesung. Was uns zudem verband, war fast tautologisch einfach: Beide waren wir keine Salzburger. Erika Zaderer war von Lienz gebürtig, und oft pries sie die Originalität und den eigenen Kopf der Osttiroler und liebte es, mir von dort ansässigen Künstlern zu erzählen.
Salzburger Stilikone
Aber wie gelang es ihr, bei den Premieren all die aufwändigen Pfingstrosendirndln, Modellkleider und tiefausgeschnittenen Wagnisse jüngerer Frauen auszustechen? Sie beschäftigte Hausschneiderinnen, die nach ihren präzisen Vorgaben mit edelsten Materialien arbeiteten, und sie besaß zudem ein sagenhaftes Gespür für Accessoires: Hüte, Schmuck, Handschuhe, Taschen, Mäntel und Schirme. Wie bei Auswahl und Beurteilung einer Oper oder eines Konzerts war auch hier ihr Anspruch höchste Qualität in jedem Detail und perfekter Zusammenklang. Vor allem aber: Es war alles sie. Mit ihrer immer wieder originellen und überraschenden Garderobe bildete sie eine Einheit. Es war großer Stil, alles andere als konventionell, selbst wenn der fließende Klimt-Schnitt glücklichere Zeiten der österreichischen Gesellschaft zitierte.
Nahezu so alt wie die Festspiele selbst, fasste Erika Zaderer in ihrer Kultur und Eleganz die Idee der Festspiele eines Jahrhunderts noch einmal zusammen, ebenso wie sie schon ihr Antagonismus war. Hier ist daran zu erinnern, dass den Festspielen bei ihrer Gründung ihrerseits die Aufgabe zugefallen war, das untergegangene Europa aufzufangen, zusammenzufassen und in der Kunst weiterzuführen. Als eine der letzten großen Damen der österreichischen Gesellschaft vermittelte Erika Zaderer allein schon durch ihre Anwesenheit jenes kulturelle Fluidum, welches ebenso unverzichtbar wie in unserer Zeit leider bedroht ist.
Überzeugte Männerfreundin
Wir lernten uns exterritorial kennen, nämlich im Café Tomaselli. Trotz ihrer Anhänglichkeit an das Café Bazar ließ sie dann und wann, vorzugsweise am Wochenende, auch das Tomaselli gelten. Das im Jahre 1700 gegründete Caféhaus hatte bereits Mozart frequentiert. Bei jenem ersten Treffen während der Festspiele vor einem Menschenalter, da man ja zusammenrückt und zu anderen Besuchern an den Tisch plaziert wird, trug sie ein elegantes rosa Kleid mit Brosche. Bald sollte ich erkennen, dass sie die eleganteste Dame der Festspiele war, ja der ganzen Stadt. Ein Trauernder schrieb anlässlich ihres Todes gerade in den Salzburger Nachrichten: »Immer werde ich an sie denken. Welch tolle Erscheinung in der Altstadt und am Wochenende im Tomaselli. Für uns alle war sie immer die „Frau Klimt“ – sie sah immer wie seine Gemälde aus.«
Ihr tatsächliches Alter erfuhr ich erst bei ihrem Tod Mitte Jänner dieses Jahres. Ich hatte sie etwa zwanzig Jahre jünger geschätzt. Erika Zaderer war in der Saison 1956/57 aushilfsweise und ab der Folgesaison 1957/58 in Vollzeit beim Pressebüro der Salzburger Festspiele beschäftigt; Ende1967 schied sie aus dem Dienst aus. Sie muss die Festspiele hervorragend betreut haben, nicht gerechnet das ungeheure musikalisch-literarische Wissen, das sie sich in jener Epoche der Festspiele aneignete. Bernhard Paumgartner, Herbert von Karajan, Karl Böhm, Georg Solti, sämtliche Gastdirigenten, alle Sänger, unzählige Schauspieler kannte sie aus dem ff und verfügte über ein weit besseres Urteil über Gesamtproduktionen als die meisten Regisseure des sogenannten Regietheaters. Dieses freilich lehnte sie nicht in Bausch und Bogen ab. Es kam für sie immer darauf an, was ein Regisseur, ein Ensemble daraus machte, und sie war eine sehr scharfe Beobachterin. Einmal fragte ich sie, was in all den Jahrzehnten für sie die eindrücklichste Opernerfahrung bei den Festspielen war. Ohne zu zögern nannte sie den hl. Franz von Olivier Messiaen bei den Festspielen 1992.
Grand Old Lady der Salzburger Festspiele
Bald durfte ich sie als gute Freundin betrachten. Sie wohnte in Salzburg-Lehen in der auf der ersten Seite von Thomas Bernhards autobiographischem Abriss Der Keller erwähnten Rudolf-Biebl-Straße in einer kleinen, bis auf den letzten Zentimeter mit Büchern erfüllten Wohnung. Dennoch nahm sie immer wieder bereitwillig, wenn auch seufzend, Manuskripte von mir entgegen, die sie noch irgendwo hineinstopfte. Sie machte sich auf, einen Regisseur für mich zu suchen, und als sie schließlich einen gefunden hatte, der mein Manuskript zur Verfilmung annahm, starb er. Sie spottete über mein Salzburg-Bashing, wie ich es in jeder Musikkritik unterbrachte. Doch anders als so mancher alte Herr, der einen am Stehplatz der Wiener Staatsoper in die Schranken weist: »Sie haben ja keine Ahnung, junger Mann! Sie haben Wilhelm Furtwängler nicht gehört!«, trumpfte sie nie mit ihrem Wissen auf, erwähnte höchstens einmal, dass Herman Prey eine bewusste Stelle vielleicht doch so und so gesungen habe. In Wissen, Erscheinung und Ausstrahlung war Erika Zaderer Vorbild mehrerer Generationen. Dabei kam ihr Humor nie zu kurz, und sie war gewillt, weder sich selbst noch die oft so starr erscheinende Salzburger Umgebung allzu ernst zu nehmen. Niemals werden wir das Café Bazar betreten können, ohne uns nach ihr umzuschauen.
Und eines weiß ich: Bei der nächsten Festspielpremiere wird sie mitten unter uns sein.