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„Carmen“ in München: Eine Inszenierung ohne Schnörkel

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Regisseur Herbert Föttinger demonstriert mit seiner „Carmen“, wie eine werktreue Inszenierung aussehen könnte. Kapellmeister Rubén Dubrovsky und das Orchester des Staatstheaters spielen Bizets Musik direkt, stark und frisch. Anna Katharina Tonauer gibt die Femme fatale sängerisch und schauspielerisch überzeugend. Von Stephan Reimertz.

Zeitlose „Carmen“

Was für eine Oper! Jedes musikalische Thema eingängig, prägnant, unvergesslich. Jede Figur archetypisch. Jede Konstellation klassisch. Ununterbrochene Aufführungsgeschichte seit der Uraufführung am 3. März 1875 an der Opéra-Comique in Paris. Die besten Dirigenten, Orchester und Sänger in jeder Generation, wie Fritz Reiner, Thomas Beecham, Herbert von Karajan, Victoria de los Ángeles, Nicolai Gedda, Mario del Monaco, Maria Callas u. v. a. Jedes Thema pfeifen die Spatzen von allen Dächern der Welt wie sonst nur noch bei Rigoletto oder dem Freischütz. Nicht nur das Großbürgertum, auch die Völker adoptierten die fatale Zigarettenfabrikarbeiterin als eine der ihren. Und Textstellen aus der deutschen Fassung des Librettos überlebten im Zitatenschatz des Bildungsbürgertums, obwohl seit Generationen nur noch in der französischen Originalsprache gesungen wird, etwa: »Ja, die Liebe hat bunte Flügel…«, »Die Liebe von Zigeunern stammt…«, oder gar: »Auf in den Kampf, Torero! Siegesbewusst! Stolz in der Brust!« Aber in welches Sprache wird die Münchner Aufführung eigentlich gesungen? Gallischer Zunge sind die Personen und ihre Darsteller nicht. Es handelt auch nicht um Spanisch, Portugiesisch, Italienisch oder Rumänisch, klingt aber vage romanisch. Nach mehrstündigem Zuhören und Rücksprache mit meiner Begleiterin habe ich mich dafür entschieden, dass es sich um Rätoromanisch handeln muss. So bietet uns die Regie, indem sie den Kanton Graubünden noch mit hineingenommen hat, eine wahrhaft europäische Inszenierung!

Eine Inszenierung ohne Schnörkel

Regisseur Herbert Föttinger, in Wien geboren und dort als Schauspieler in der Josefstadt aufgewachsen, präsentiert seine Carmen in München völlig unverwandt. Auf eine gegenläufige Sekundärfunktion, wie die Vertreter des Regietheaters sie so oft für unabdingbar erachten, ist hier weitgehend verzichtet. Die neue Inszenierung am Gärtnerplatz ist eine Carmen, wie sie eigentlich gehört. Das begeisterte Münchner Publikum, darunter viele Kinder, dankten es Regieteam und Darstellern mit herzlichem Beifall und Bravorufen. Die Personenregie verdeutlicht die Konstellation der liebestollen Zigeunerin zwischen dem Soldaten Don José und dem Stierkämpfer Escamillo, ebenso wie jene des Don José zwischen der braven Micaëla und der aufregenden Carmen ohne Umschweife und doppeltem Boden. Eine solche Art der Inszenierung wird von Opernfreunden seit Generation immer wieder gefordert. Sie alle haben die Faxen dicke von pseudointellektuellen Nerds, die glauben, dem Publikum den Operngenuss um jeden Preis versauen zu müssen, indem sie uns ihr unausgegorenes Seminargewäsch vorsetzen, anstatt das Stück zu inszenieren. Dem von mehreren Generation abgrundtief gehassten Regietheater setzt Herbert Föttinger nun eine Inszenierung entgegen, die so klar, eindeutig und nachvollziehbar ist wie diese Musik selbst. Vorbildlicherweise bleibt auch der Vorhang während jeder der vier Ouvertüren vor jedem Akt geschlossen.

Das schwer lösbare Problem dieser dramaturgischen Herangehensweise ist dann freilich der Realismus der erotischen Konstellationen und die Gefahr, die Darstellung könnte ins Grobe absinken und wir uns plötzlich im Wirtshaus im Spessart wiederfinden. Tatsächlich entgeht auch die Münchner Produktion dieser Bedrängnis besonders im ersten Akt nicht gänzlich, so dass bei erotischen Anspielungen Peinlichkeiten nicht ganz ausgeschlossen sind. Und wies soll man Speiselokale, in denen kriminelle Handlungen verabredet werden, wie im Stück die Schenke des Lillas Pastia, auf der Opernbühne inszenieren, ohne dass es forciert wirkt? Eine Inszenierung der Oper ist also nicht ohne Herausforderungen.

Ein Bühnenbild voller Symbolik

Austro-Bühnenbilder Walter Vogelweider, erfahrener Profi aus Graz, gestaltet den Spielort durchgehend geschickt als variable Einraumwohnung. Welch ein Glück, dass Staatsintendant Josef Köpplinger aus Österreich stammt, viele seiner Landsleute mitbringt und den Gärtnerplatz zu einer Enklave rot-weiß-roter Hochkultur erhebt! Besonders bei seiner jüngsten Inszenierung der Zauberflöte haben alle davon profitiert. Bühnenkünstler Vogelweider lässt sich bei den Seitenwänden seines Bühnenraumes vom römischen Stadtviertel EUR inspirieren, bzw. Giorgio de Chiricos Darstellung dieses abstrahierten Neoklassizismus. Was den Bühnenhintergrund angeht, hat es ihm das große versenkbare Fenster des Berghofs angetan, das ja auch der Architekt des heute am Obersalzberg befindlichen Hotels als architektonisches Zitat aufgenommen hat.

Durch Kulissenschieberei kann die Bühne den jeweiligen szenischen Erfordernissen angepasst werden, bis hin zum Finale, wo die EUR-Wände im wörtlichen Sinne eine Zuspitzung erfahren. Mit dem eifersüchtigen Don José und Carmen stehen wir vor der Stierkampfarena und verfolgen über die musikalische Mauerschau den Fortgang des Stierkampfes. Gleichzeitig erfahren drüben der Stier und hier von unseren Augen Carmen den Tod. Wenn Don José Carmen nicht haben kann, dann soll sie nach seiner Meinung auch niemand anders haben, schon gar nicht der in der männlichen Hierarchie höher angesiedelte Stierkämpfer.

Die perfekte Besetzung

Wir besuchten die vierte Aufführung, und da machten alle Sänger ihre Sache sehr gut. Alexander Tsilogiannis (ausnahmsweise kein Österreicher, sondern Grieche) vermochte die Eifersuchtsqual Don Josés gar stimmlich zu transportieren, und Graeco-Bariton Timos Sirlantzis bestach namentlich durch hinreißend arrogant-machistisches Gehabe des echten Toreros, wenn auch sein Wedeln mit der Muleta verriet, dass er Hemingways Stierkampf-Standardwerk Death in the Afternoon nicht gelesen hat. Was die Besetzung der Titelrolle angeht, hat eine Regie jederzeit die Möglichkeit, Carmen als Anti-Typ zu präsentieren, um so das Projektive und Illusionäre des Begehrens zu verdeutlichen. Unsere Inszenierung entschied sich jedoch für die klassisch-nachvollziehbare Version einer Carmen, deren weibliche Faszination jedem Zuschauer sogleich einleuchtet. Die Austro-Sängerin mit dem sprechenden Namen Anna-Katharina Tonauer, wandlungsfähig als Femme fatale, konnte die Magie Carmens und ihre Ausstrahlung auf alle Männer problemlos szenisch vermitteln. Ihr starker, an Höhen, Tiefen und Nuancen reicher Mezzo ließ uns aufs neue fühlen, warum die Oper Carmen nicht zufällig zum kulturellen Archetyp wurde. Begegnete man ihr zufällig auf der Straße, wirkte AKT eher wie das liebe Mädel von nebenan. Umso mehr muss man ihre Schauspielkunst bewundern, wenn sie nun plötzlich als Blauer Engel hoch drei um die Ecke kommt. Die entzückende Ana Maria Labin (in Rumänien geboren) als die ländlich-treuherzige Micaëla indes stand ihrer Gegenspielerin stimmlich und schauspielerisch nicht nach. Von ihrer leichten Erkältung hörte man nichts, im Gegenteil, wenn sie voll aufdrehte, lief es einem heiß und kalt den Rücken runter.

Die Magie der „Carmen“

Jede Carmen-Aufführung ist idealerweise eine liebevolle Feier der Anziehung zwischen Mann und Frau. Die Münchner Produktion darf sich stolz in diese Tradition stellen. Was dem Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz unter Rubén Dubrovsky (kein Österreicher, aber in Wien wohnend) an instrumenteller Vollendung fehlen mag, machen die enthusiastischen Musikanten durch Direktheit und Ehrlichkeit des Vortrags mehr als wett. In manchen Momenten hätte es freilich schwungvoller sein dürfen. Sei’s drum. Wenn Anna-Katharina Tonauer zu Beginn des ersten Aktes als Carmen die legendäre Habanera vorträgt und die Bühne mit ihrem Charisma erfüllt und dazu die Gärtnerplatzmusik aufspielt, entfaltet die unbegreifliche und selbst im Werke dieses Komponisten einmalige Komposition ihre durchschlagende Magie.

Weitere Aufführungen im November und Dezember 2024 sowie im Februar und März 2025

Gärtnerplatztheater
Gärtnerplatz 3
80469 München

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‘Carmen’ in Munich: A production without frills

Herbert Föttinger’s new production of Bizet’s „Carmen“ at Munich’s Gärtnerplatztheater is a successful blend of tradition and modernity. The clear direction, combined with an atmospheric stage design, creates a fascinating atmosphere. The musical direction of Rubén Dubrovsky and the orchestra deliver a passionate interpretation of the score. Particularly impressive is the title role, which is embodied by Anna Katharina Tonauer with great intensity and vocal brilliance. The other performers also convince with their strong performances. Föttinger succeeds in placing the well-known melodies and the dramatic story in a new light without falsifying the essence of the opera.

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