- Sezierte Macht und koloniale Lächerlichkeit
- "Noli me tangere": Angriff auf das System
- Ein Dorf als Spiegel der Kolonialherrschaft
- José Rizal – Arzt, Autor, Nationalheld
- Philippinische Literatur neu entdecken
- José Rizal's ‘Noli me tangere’ – a classic of Philippine literature
Von Barbara Hoppe.
Wer die Geschichte der Philippinen verstehen will, kommt an José Rizal nicht vorbei. Sein Roman „Noli me tangere“ ist dort Pflichtlektüre an Schulen und Universitäten – und das aus gutem Grund. Gilt er doch als Schlüsselwerk, das der spanischen Kolonialherrschaft in dem Inselstaat erheblich zusetzte und seinem Verfasser 1896 das Leben kostete. Doch die Hinrichtung von José Rizal durch die Spanier war erst der Beginn des Kampfes der Filipinos für die Unabhängigkeit. 1898 verließen die Spanier das Land – zwar nicht als Besiegte der Filipinos, sondern als Unterlegene im Spanisch-Amerikanischen Krieg, als die Philippinen an die Amerikaner fielen. Doch die sogenannte Philippinische Revolution in den zwei Jahren nach Rizals Hinrichtung stärkte das Nationalbewusstsein in dem Inselstaat maßgeblich.
Mit der neuen Insel-Ausgabe liegt nun dieser Grundstein der philippinischen Literatur wieder auf Deutsch vor: ein Roman, der gnadenlos das System kolonialer Willkür freilegt. Dass das Buch 1887 in Berlin gedruckt wurde, verleiht der Rückkehr in die deutsche Hauptstadt im Jahr 2025 eine schöne Pointe.
Sezierte Macht und koloniale Lächerlichkeit
Auch wenn „Noli me tangere“ ein groß angelegter Gesellschaftsroman ist, so ist er weit mehr als ein Historienschmöker. Rizal zeigt schonungslos, wie die spanische Kolonialordnung den Alltag vergiftet: Von der Kirche bis ins Amtszimmer begegnen einem Willkür, Bösartigkeit, Intrigen, Machtgelüste und Gier. Wer sich auf den Roman einlässt, taucht tief ein in eine über 300 Jahre währende Kolonialherrschaft mit so absurd-grotesken wie brutalen Zügen. Rizal seziert die Zustände und zeigt ihre Schrecken ungeschminkt – von der Barbarei bis zur Zurschaustellung absoluter Lächerlichkeit kolonialen Gehabes.
„Noli me tangere“: Angriff auf das System
Dazu passt seine ausschweifende und bildreiche Sprache. In ausführlichen Beschreibungen von Festen, Ratssitzungen, Predigten und Hahnenkämpfen zeigt er, wie Macht funktioniert – und wie sie in Sprache und Rituale einsickert. Satire und Realismus greifen ineinander; die schrille Komik der Doña Victorina oder die Auftritte dummstolzer Beamter wirken immer auch beklemmend. Rizal greift die Pose an, nicht die Person – und trifft das System.
Es ist diese präzise Beobachtung, die den Roman zum Klassiker macht. Jeder Satz schreit das Unrecht heraus, jeder Dialog setzt einen feinen Schnitt ins Fleisch der Verhältnisse. Die Encyclopaedia Britannica spricht von einer „leidenschaftlichen Entlarvung der Brutalität und Korruption“ der spanischen Herrschaft. So kurz, so treffend.
Ein Dorf als Spiegel der Kolonialherrschaft
José Rizals Roman beginnt mit einer abendlichen Gesellschaft, in der die Rollen bereits klar definiert sind. Der Grund der Feier: Crisóstomo Ibarra kehrt nach sieben Jahren Europa-Aufenthalt in seine philippinische Heimat zurück. Auf ihn wartet nicht nur die schöne María Clara, Tochter des Capitán Tiago und die Idealfigur bürgerlicher Anmut, sondern auch seine selbstgewählte Aufgabe, eine Schule zu bauen. Bildung als Aufbruch schwebt ihm vor – doch die Mächtigen in San Diego, einem exemplarischen Provinzort und Heimat des jungen Mannes, haben andere Pläne: Strippenzieher sind der einflussreiche Franziskaner Padre Dámaso, sein Kollege Padre Salví und jene Honoratioren, die mit der Kolonialverwaltung schachern. Rizal lässt kein gutes Haar an den Stadtmächtigen und ihren dunklen Trieben. Nebenfiguren wie der aufgeklärte Außenseiter Elías oder die verarmte Sisa mit ihren Söhnen Crispín und Basilio verdichten die Anklage: ein Dorf, in dem Aberglaube, Amtsmissbrauch und religiöse Machtspiele Menschenleben zermahlen. Das Ende von „Noli me tangere“ ist noch nicht das Ende der Geschichte. Mit dem Roman „El Filibusterismo“ aus dem Jahr 1891 legt Rizal noch einen drauf. Als zunächst gemäßigter Widerständler gegen die Spanier, der Reformen dem Kampf vorzieht, spricht er in der Fortsetzung jedoch die Sprache der Gewalt.
José Rizal – Arzt, Autor, Nationalheld
Beide Romane sind DIE Klassiker philippinischer Literatur. Rizal, der 1861 in Calamba geboren wurde, war Arzt, Intellektueller und Europa-Kenner. Sein Streben galt nicht der blutigen Revolution. Und doch waren seine Worte so gefährlich wie eine heranrückende Armee. 1896 wurde er von einem spanischen Exekutionskommando in Manila erschossen. Trotzdem und obwohl seine Romane früh zensiert wurden, konnten die Spanier das Aufkommen eines nationalen Bewusstseins in den Philippinen nicht mehr aufhalten. Heute ist der Platz seiner Hinrichtung der Rizal-Park, der größte Stadtpark Asiens, mit einem José Rizal-Denkmal, einem Bronze-Diorama, das die Gebeine des Nationalhelden enthält und die dramatischen letzten Szenen aus seinem Leben zeigt.
Philippinische Literatur neu entdecken
Es ist großartig, dass der Insel Verlag mit dieser Neuübersetzung dem deutschen Lesepublikum eine Tür zu einer Literatur öffnet, die viel zu wenig präsent ist und die – Dank der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, wo die Philippinen Gastland sind – ein literarischer Reisebeginn ist.
| José Rizal | Noli me tangere aus dem philippinischen Spanisch von Annemarie del Cueto-Mörth |
| Insel Verlag, Berlin 2025 | bei amazon bei Thalia |
Was das Buch lesenswert macht:
- Klassiker der philippinischen Literatur
- Anklage gegen koloniale Willkür
- Neuentdeckung philippinischer Literatur
José Rizal’s ‘Noli me tangere’ – a classic of Philippine literature
José Rizal’s novel “Noli me tangere”, first published in Berlin in 1887, is considered a cornerstone of Philippine literature and remains mandatory reading in schools today. The physician, intellectual, and later national hero depicts in epic breadth a society marked by corruption, arbitrariness, and the overpowering influence of the clergy.
At its center is the young idealist Crisóstomo Ibarra, who returns from Europe with the vision of founding a school. His dream, however, collapses under intrigue: priests such as Padre Dámaso and Padre Salví cling to their power, while figures like the freedom fighter Elías or the tragic Sisa embody the suffering of the oppressed.
Rizal’s style remains striking today: detailed descriptions of festivities, sermons, or bureaucratic rituals expose the workings of colonial control with relentless precision. Every sentence cuts into the system.
Born in 1861, Rizal was executed by the Spanish in 1896. His works “Noli me tangere” and “El filibusterismo” became catalysts for a burgeoning national consciousness. The new Insel edition of “Noli me tangere” now reintroduces this classic of the colonial era to the German-speaking audience.
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Habe gern Barbara Hoppes vorstellung des „Noli me tangere“ von J. Rizal gelesen, muss aber der behauptung widersprechen, es handle sich über eine „Neuübersetzung“. Das impressum des Insel/Suhrkamp-verlags suggeriert das zwar, spielt aber mit falschen karten. Denn die übersetzung von A. del Cueto-Mörth ist nicht – wie Insel behauptet – eine 1., sondern eine passgenaue 2. aufl. der ersterscheinung aus dem jahr 1987. Diese übersetzung wurde nicht – wie jetzt behauptet – vom philippinischen National Book Development Board, sondern von Bayer, Boehringer, Merck, Hoechst etc. finanziert. Es ist ein jammer, dass die alte übersetzung ohne revision übernommen wurde und als etwas neues angepriesen wird. Um eine ahnung zu bekommen, warum das auch dem Autor Rizal schadet, empfehle ich: Dietrich Harth, José Rizals Kampf um Leben und Tod. Facetten einer kolonialismuskritischen Biografie. Heidelberg: HeiBOOKs, 2. Aufl. 2025. Open Access: https://doi.org/10.11588/heibooks.1356
Lieber Herr Prof. Harth, vielen Dank für diese Klarstellung.