Geschmack ist Glücksache, deutscher Humor nicht jedermanns Ding, und die Fünfziger Jahre sind überall. Bemerkungen zur neuesten Münchner Uraufführung am Gärtnerplatz. Von Stephan Reimertz.
Theodor W.-Adorno reflektierte bereits in den Sechziger Jahren über die Frage, warum Auftragswerke von Opernhäusern meist in die Hose gehen. Denkt man an Opern wie Ödipus von Wolfgang Rihm oder das Schloß nach Kafka von Aribert Reimann, möchte man dem alten Spötter aus Frankfurt ebenso recht geben, wie man ihm unter Hinweis auf Reimanns Lear widersprechen mag. In der Kunstgeschichte indes lässt sich »Teddys« These leicht belegen, hier zeigen die aus eigenem Antrieb geschaffenen Werke etwa der Malerei oft eine höhere Verve als die pflichtschuldig angefertigten Auftragswerke, besonders bei Porträts.
Sie merken schon: ich ringe hier mit mir, irgendetwas zur Verteidigung meines Künstlerkollegen Thomas Pigor vorzubringen, der nun wirklich ein seltenes Allroundtalent ist, dem jedoch mit Oh! Oh! Amelio! einem Auftragswerk des Staatstheaters am Gärtnerplatz ebensowenig geholfen ist wie den Zuschauern oder dem Staatstheater. Zugleich verstauben zahllose wunderbare Stücke von jungen Autoren unaufgeführt in den Schubladen der Dramaturgien, weil es deren Schöpfern am Kontakt zu den heutzutage alles beherrschenden regierungsnahen Kulturcliquen gebricht – was ja letztendlich nur für sie spricht. Pigor wiederum nennt das Machwerk, dem er als Hauptdarsteller und eine Art Moderator, »Die Täschner«, ebenso vorsteht, wie er den Text gedichtet und die Musik mitkomponiert hat, »eine nagelneue Operette«. Das ist, wenn man so will, ein Etikettenschwindel, oder auch Operettenschwindel, denn weder ist diese mehr Hofbräuhaus als Lach- und Schießgesellschaft offerierende Witzklamotte nagelneu, noch ist es eine Operette.
Zur falschen Zeit am falschen Ort
Cabaret ohne Kabarett, Show ohne Chuzpe, Spiel ohne Esprit, so ließe sich die Produktion besser zusammenfassen. Das Motiv des Erbes, der nur an seinen Erbteil gelangt, wenn er verheiratet ist und der darum schnell einen Ehepartner vorzeigen muss, ist nicht neu, eher ein running gag, den sich auch Komödien-Routinier Georges Feydeau in Occupe-toi d’Amélie nicht aus den Fingern gesogen hat. Die Farce von 1908, in der Zwischenzeit vielfach bearbeitet und verfilmt, dient nun als Anstoß für Oh! Oh! Amelio!, ein Singspiel mit Texten von beschränkter Originalität, das eine Farce nur insoweit genannt werden kann, als es beansprucht eine Farce genannt zu werden. Die Bezeichnung Frivole Fummel Farce, mit der das Gärtnerplatztheater seine neue Uraufführung tituliert, ist in Wirklichkeit eine hochartistische, seit den feminelli der Antike zelebrierte Kunst, die man heute beispielsweise in Paris, aber auch an vielen Orten in Asien mit höchstem Können und subtilen Zwischentönen erleben kann. Dies Münchner Bauerntrampeltheater hat damit nichts zu tun. Wie ist es möglich, dass mitten in einem Zentrum des altbayrischen Komedi-Spielens, wenige Schritte von den Denkmälern von Karl Valentin und Liesl Karlstadt auf dem Viktualienmarkt entfernt ein so plumpes Spektakel aufploppt?
Mehr »1950« als die Fünfziger Jahre selbst
Dabei kann niemand Thomas Pigor seinen Rang als Travestiekünstler streitig machen. Wie er da als fränkische »Täschner« die Besucher begrüßt und das Stück kommentiert, das ist schon sehr gekonnt. Freilich ist die Wiederauferstehung von Charleys Tante ernster gemeint, als uns Zuschauern am Anfang schwanen mag. Die Wiederbelebung dieser Klamotte aus dem ersten Jahrzehnt des Zwanzigsten Jahrhunderts ist auf eigenartige Weise in der Adenauerzeit steckengeblieben. Es ist sogar mehr Adenauer als Adenauer selbst, der im Gegensatz zu dem neuen Stück sehr witzig sein konnte. Während vergleichbare Produktionen jener Zeit stets wider den politischen Stachel löckten, haben wir es nun mit Erfüllungsgehilfen der Regierungskoalition zu tun. So wurde etwa die Münchner Lach- und Schießgesellschaft als politisches Kabarett in den Fünfziger Jahren gegründet, die Wühlmäuse in Berlin 1960, das Kom(m)ödchen in Düsseldorf bereits 1947. Sie stichelten gegen die Regierung und den Muff ihrer Zeit, aber was für ein Muff ist das in unserer Zeit, wenn Theater solch regierungskonformen Mainstream aufführen wie das hier? Da erscheinen die Fünfziger dann gar nicht mehr so muffig, und unser 150%ig angepasster Kulturbetrieb als eine Veranstaltung, die niemand braucht. Wer seinen Lessing, seinen Schiller und seinen Brecht gelesen hat, der weiß, dass Theaterbesucher nicht das sehen sollen, was sie sehen wollen, sondern das sehen wollen, was sie sehen sollen.
Politisch angepasste Scheintoleranz
Die Produktion kommt sich allen Ernstes modern und tolerant vor, weil der als »Tanzgirl« arbeitende Amelio von Tschüsskowski statt einer Freundin einen Verlobten hat. Gähn! So hatte schon vor zwei Jahren die französische Regisseurin Marie-Eve Signeyrole in Joseph Haydns L’infedeltà delusa am Münchner Cuvilliéstheater aus dem Pärchen ein lesbisches Paar gemacht, wofür gar ein Gesangspart transponiert werden musste. Wie mutig! Wie modern! Christian Schleinzer und Armin Kahl mimen jetzt das schwule Pärchen mit mehr oder weniger Begeisterung; Kahl, für den Bühnen- und Kostümbildner Karl Fehringer und Judith Leikauf kein Kostüm mehr eingefallen ist, im Khakihosen- und Polohemd-Mainstream, den man leider inzwischen auch in München auf der Straße sehen muss. Ein Heteromann kann natürlich nur als eine Art Harvey Weinstein daherkommen: Alexander Franzen mimt den Filmproduzenten Prinz stark überzeichnet, aber mehr als grob chargieren kann ein Darsteller in diesem Stück auch nicht, selbst wenn Julia Sturzlbaum ihre gesamte unbegrenzt scheinende Energie und ihre bei Bedarf gewaltige Stimme in den Versuch investiert, den dramaturgischen Blödsinn durch darstellerische Brillanz doch noch herauszureißen. Muss das Leben und die Begabung solcher Darsteller für dermaßen zweifelhafte Produkte verschwendet werden, oder wäre es nicht besser, wenn sie ihre künstlerischen Impulse in den Dienst von intelligenten Theaterproduktionen stellen könnten?
Die unbewussten Fünfziger Jahre
Als besonders geschmacksfrei und zudem politisch instinktlos muss die vulgäre Parodie auf die osteuropäische bzw. orthodoxe Welt angesehen werden. Dagmar Hellberg als »Die Putzbumskaja«, eine Tante aus der »Marzowina«, spult stimmgewaltig und parodiefreudig das gesamte Spektrum der Osteuropa-Klischees vom Trödelmarkt ab. Was soll das? Das ganze gipfelt in einer orthodoxen Messe, die wirkt wie auf der Geisterbahn. Hätten sie das doch mit dem Islam gemacht, aber das trauen sie sich nicht. Auch traut sich das Gärtnerplatztheater offenbar nicht, seine eigene jüngsten Geschichte zu thematisieren, obgleich die Art und Weise, wie die gelungene Produktion von Jonny spielt auf abgesetzt wurde, weil Fanatiker aus dem Umkreis der Falckenbergschule die Mitwirkenden am Gärtnerplatz bedrohten, lohnender Gegenstad für eine kritische Operette wären. Im Lenbachhaus wiederum wurden Gemälde von August Macke abgehängt, den bereits die Nazis als »Entarteten Künstler« diffamierten. Und mit dem in wenigen Wochen in Kraft tretenden neuen »Selbstbestimmungsgesetz«, mit dem jeder auf dem Amt sein Geschlecht »selbstbestimmen« soll, schlägt die deutsche Rechtsprechung zum ersten Mal seit den Nürnberger Gesetzen Vernunft und Wissenschaft frontal ins Gesicht. All das wären Sujets kritischer Theaterarbeit, die den Menschen auf den Nägeln brennen. Sperrangelweit offen stehende Türen einzurennen und sich dabei noch avantgardistisch vorzukommen wirkt frappierend provinziell.
Sinn und Zweck von Oh! Oh! Amelio!, dieser in jeder Hinsicht überflüssigen Veranstaltung im Hobbykeller des Gärtnerplatztheaters, bleiben im Dunkeln. Die Produktion sagt nicht viel für sich, allein sie sagt uns einiges über unsere Zeit mit ihrer Bereitschaft zur hysterischen Überanpassung an die Regierungslinie und ihre Pseudoliberalität. Thomas Pigor spielt zu billig. Dabei hätte dieser rundum begabte Theaterprofi dem Publikum viel zu bieten, wenn er nur vorher etwas nachdenken würde. Als fränkische Hausfrau »Die Täschner« stellt er sich gleich am Anfang als Puffmutter seines gespenstischen Theatermuseums vor. Das ist gekonnt, führt aber in diesem Fall zu nichts. Schaubude als unmoralische Bedürfnisanstalt, das ist zu wenig für diese Stadt und dieses Haus, an dem Tanztheater von Weltrang und vorbildliche Operninszenierungen stattfinden. Oh! Oh! Amelio! ist weder eine Operette, noch ein Singspiel noch ein Cabaret, noch sonst irgendwas. Es ist nur grobschlächtig, primitiv, abstoßend, mottenzerfressen und dämlich. Das politische Singspiel auf dem Nockerberg ist das reinste Bayreuth dagegen.
Alle Aufführungen bis Ende Oktober hier
Gärtnerplatztheater
Gärtnerplatz 3
80469 München
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.
Oh dear, Amelio! – Cabaret Junk in the Hobby Cellar at Gärtnerplatz
In the 1960s, Theodor W. Adorno reflected on why commissioned works by opera houses often fail. Works like Wolfgang Rihm’s „Oedipus“ or Aribert Reimann’s „The Castle“ support this thesis. In art, it is often seen that works created from personal initiative possess more verve than commissioned pieces. Thomas Pigor, a rare all-round talent, could not help himself or the audience with „Oh! Oh! Amelio!“, a commissioned work by the Staatstheater am Gärtnerplatz.
Pigor calls his work a „brand-new operetta,“ which is rather a mislabeling. The piece, in which he acts as both the main actor and moderator, is neither new nor a genuine operetta. It offers a humorless slapstick that resembles a crude farce. The plot revolves around an inheritance that can only be claimed upon marriage, an old gag already used by Georges Feydeau in „Occupe-toi d’Amélie.“
The production is politically adapted and appears modern because Amelio has a fiancé instead of a girlfriend. Christian Schleinzer and Armin Kahl play the gay couple, but the piece remains clichéd. A vulgar parody of the Eastern European world and an orthodox mass come across as tactless and tasteless.
The Gärtnerplatztheater could have instead focused on its own history, such as the cancellation of „Jonny spielt auf“ due to threats. Pigor, as a travesty artist, has much to offer if he would invest his talent in more intelligent theater productions. „Oh! Oh! Amelio!“ is neither an operetta nor a musical, but a primitive, repulsive cabaret attempt that is politically adapted and artistically disappointing.