Was taugt die Musikalische Komödie Giuditta von Franz Lehár in der verhemmten, beklommenen Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper?
…fragt Stephan Reimertz
Wussten Sie, dass…
…der Name Lehár auf der ersten Silbe betont wird, trotz des Akzents auf der zweiten?
…Franz Lehár bereits im Alter von elf Jahren Lieder schrieb?
…Lehár während seines Studiums am Prager Konservatorium (Diplom im Fach Violine) Bekanntschaft mit Antonín Dvořák und Johannes Brahms schloss?
…er 1890 mit zwanzig Jahren der jüngste k. & k. Militärkapellmeister wurde (Infanterieregiment No. 25 in Losoncz, Ungarn)?
…Lehár mit sechsundzwanzig Jahren den Versuch wagte, als Opernkomponist sein Leben zu fristen, indes kurz darauf nach dem Tod seines Vaters dessen Stelle als Kapellmeister des Infanterieregiments No. 50 in Budapest übernahm?
…Franz Lehár als Zweiunddreißigjähriger von nun an nur noch als Komponist lebte und drei Jahre später mit der Lustigen Witwe weltberühmt wurde?
…der Komponist sich mit Anfang vierzig sowohl mit dem Kollegen Giacomo Puccini anfreundete als auch mit Fritz Löhner-Beda, der 1933 das Libretto von Giuditta mitverfassen und 1944 in Auschwitz ermordet werden sollte?
…Franz Lehár Anfang der Zwanziger Jahre die folgenreichste Freundschaft seines Lebens schloss, nämlich mit dem Tenor Richard Tauber, und dass von da an der Siegeszug des Radios zugleich ein Siegeszug der beiden Freunde wurde?
…Lehárs weltberühmte Oper Das Land des Lächelns, welche 1929 Premiere im Metropol-Theater Berlin feierte, bereits sechs Jahre zuvor im Theater an der Wien unter dem Titel Die gelbe Jacke uraufgeführt worden war?
…Lehár es wagte, Goethes Heideröslein zu vertonen, und dass seine Komposition gleichrangig neben der Mozarts stehen kann?
…die Uraufführung von Lehárs musikalischer Komödie Giuditta an der Wiener Staatsoper am 20. Jänner 1934 über hundertzwanzig Radiosender weltweit übertragen wurde?
…Richard Tauber und Franz Lehár in Zürich am 5. Mai 1946 zu einem letzten gemeinsamen Konzert zusammentrafen, welches auch auf Platte gebannt ist und in welchem Tauber Dein ist mein ganzes Herz in vier Sprachen sang?
…Giuditta Ende Mai 1951 ihre Münchner Premiere am Staatstheater am Gärtnerplatz feierte, wo sie besser jetzt auch geblieben wäre?
…Giuditta am Samstag, dem 18. Dezember 2021 Premiere der Neuinszenierung an der Bayerischen Staatsoper beging? Diese Inszenierung fällt noch in die Verantwortung von Klaus Bachler, in den Jahren 2008 bis 2020 Intendant der Staatsoper. Wenn Sie in München die Aufführung von Giuditta besuchen, die ja eine Musikalische Komödie sein soll, wird es für Sie doch nur einen einzigen lustigen Moment geben: Wenn Sie nämlich in der Pause am Bücherstand ein Buch von Klaus Bachler entdecken, in dem dieser sich über »Musiktheater« äußert. Haha! Was versteht der denn davon? werden Sie sich fragen. Wo dieser Unglücksintendant doch den maximal ungeeigneten Regisseur für Giuditta engagiert hat: Christoph Marthaler, einen bekannten Theaterrabâcheur.
…Komponist und Textdichter den Zuschauer in der ersten Szene von Giuditta mit der Arietta Freunde, das Leben ist lebenswert! begrüßen, hingegen die Aussage von Regisseur Marthaler und seiner Bühnen- und Kostümbildnerin Anna Viebock lautet: Leute, das Leben ist nicht lebenswert! Es ist unmöglich, den Ort topographisch zutreffend zu bezeichnen, den uns Anne Viebock auf der Bühne präsentiert. Halb Wartesaal im Provinzbahnhof, halb Theatersaal im Provinzgasthaus? Ebenso wie bei dem Regisseur Krzysztof Warlikowski und seiner Bühnen- und Kostümbildnerin Małgorzata Szczęśniak wird ein U-Topos präsentiert, mit dem niemand etwas anfangen kann, die Zuschauer nicht und auch die Darsteller nicht. Wie sollen sie sich darin bewegen? Im Zentrum gibt’s eine kleine Bühne – Theater im Theater, wie originell! – , die Kostüme breiten ein beliebiges stilistisches Durcheinander aus. Und selbstverständlich fehlen die Naziuniformen nicht.
…die Gesetze des Bühnenbildes lauten: Jedesmal, wenn der Vorhang aufgeht, muss der Zuschauer sich sagen, dass er noch nie etwas so Schönes gesehen hat? Und: Jedesmal, wenn der Vorhang aufgeht, muss der Zuschauer etwas Neues sehen. Aber Sie können es sich denken: Man sieht immer das gleiche, und es wird zunehmend öder.
…dass die musikalische Architektur der Oper auf den beiden hinreißenden Arien Meine Lippen, sie küssen so heiß und Du bist meine Sonne beruht, aber auch bemerkenswerte musikalische Nebenschauplätze wie das Duett Schön wie die blaue Sommernacht und Schönste der Frauen usw. bietet? Die Musik Lehárs zeichnet sich durch thematische, harmonische und rhythmische Originalität, Abwechslungsreichtum und Eingängigkeit bei elegant verborgener Komplexität aus.
…der irisierende Zauber in der Musik von Lehár zwar unerklärlich bleibt, sich zum Teil jedoch, nicht anders als bei seinem Freunde Puccini, der Pentatonik verdankt, die in Giuditta zwar schwächer angewandt ist als in anderen seiner Werke, jedoch ebenfalls vorhanden? Sie können das zu Hause selbst ausprobieren, indem Sie z. B. nur auf den schwarzen Tasten des Klaviers spielen.
…der Regisseur Christoph Mathaler uns offenbar nur etwas über Christoph Marthaler mitteilt, und was er uns mitteilt, ist deprimierend. Allein wo nimmt der Mann das Recht her, Lehár und uns in seine innere Öde hineinzuziehen?
…Regisseur Marthaler glaubt, dieses Werk von Franz Lehár mit Einschüben von Bartók, Berg, Eisler, Korngold, Křenek, Schönberg, Schostakowitsch, Strawinsky und Viktor Ullmann aufpäppeln zu müssen, ebenso mit Dialogen aus Ödön von Horváths Stück Sladek, das der Oper zugrunde liegt. Schiebt man demnächst Auszüge der Lustigen Witwe in den Tristan ein?
…Kapellmeister Titus Engel und das Bayerische Staatsorchester die fremdmusikalischen Einschübe nicht etwa konfrontativ aufspielen, sondern glättend einschmuggeln? Der gesamtmusikalische Effekt besteht darin, dass nach allzuviel Berg und Eisler der graziöse Schwung Lehárs sich nicht ohne weiteres aus dem Ärmel schütteln lässt. Und für die Sänger wird es statt eines Opernballs ein Drahtseilakt. In unserer Aufführung mitten im Münchner Fasching gab Daniel Behle den Hauptmann Octavio, dessen gedrückte Stimme nichts anderes war als die natürliche Reaktion einer Sängersensibilität auf den umgebenden Regiebrutalismus.
…Vida Miknevičiūtė als Giuditta die ganze Kraft ihrer bedeutenden Begabung aufbot und uns doch noch jene emphatischen Momente bescherte, aus denen die ganze Oper bestünde, wenn sie nur angemessen aufgeführt würde?
… Marthalers Inszenierung der Giuditta ein gutes Beispiel für den kainitischen Hass vieler Regisseure auf die Autoren der Stücke ist? Johannes Gross spricht in diesem Zusammenhang vom »Hass des bloß Ausübenden gegen das Talent, den wirklichen Autor […], dessen Beschädigung durch Paraphrase und Parodie als eigene Leistung vorzuführen übrigbleibt«.
…Franz Lehár der Inbegriff des österreichisch-ungarischen Komponisten ist, seine Werke von österreichischem Charme und ungarischem Feuer erfüllt sind, die Giuditta in München aber weder das eine noch das andere hat? Es wird ihr nicht erlaubt. Da werden Sie sich fragen, wie dieser Schweizer Unglücksrabe dazu kommt, uns all das zu verweigern. Er will die Guditta zurücknehmen, so wie der Komponist Adrian Leverkühn die Neunte Symphonie zurücknehmen will; wir sind hier im Reich des koffeinfreien Kaffees, des alkoholfreien Bieres, des Opernballs mit Tanzverbot.
…Christoph Marthaler die Schweizer Religionsfehden und Wilhelm Tells Kampf gegen die Habsburger auf der Bühne fortführt? Die charmante k. & k. Operette Giuditta von Franz Lehár ist dafür das falsche Objekt.
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