Ein Museumsbesuch von Barbara Hoppe.
Es beginnt mit einem Namen. Freida S. Enzenberg. 15 Jahre alt, jüdisch. 1911 macht sie sich allein auf den Weg in ein neues Leben. Die Eintrittskarte ins Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven weist mir ihre Identität zu. Von nun an ist sie meine Begleiterin, ihre Biographie wird zum roten Faden meines Rundgangs. Und ich werde verstehen, was es bedeutet, mit nichts als einem Koffer und einem Traum aufzubrechen. Das Auswandererhaus macht es leicht, sich einzufühlen. Nichts erinnert hier an die trockene Dokumentation von rund 150 Jahren Auswanderergeschichte. Zwischen 1830 und 1974 traten über sieben Millionen Menschen aus Mittel- und Osteuropa von diesem Ort ihre Reise ins Ungewisse an. Was heute ein preisgekröntes Museum ist, war einst einer der pulsierenden Ausgangspunkte für Hoffnung, Abschied und Neuanfang – ein Tor zur Welt, das Bremerhaven zu einem der bedeutendsten Auswanderungshäfen Kontinentaleuropas machte.
Abschied und Hoffnung
Die Reise der Besucher beginnt im Warteraum für die Passagiere der dritten Klasse, der dem originalen Wartesaal nachempfunden ist. Vor ihnen lag eine ungewisse Reise. Mitte des 19. Jahrhunderts zudem eine ungemütliche Fahrt. Eingepfercht im Zwischendeck, harrten sie 6 bis 15 Wochen aus, wenn es stürmte, wurde es noch ärger: Die Luken wurden geschlossen, Dunkelheit, Angstgeschrei, Enge, Übelkeit und Erbrechen und übervolle Nachttöpfe machten die Fahrt zur Hölle auf Erden. Mit Aufkommen moderner Dampfschiffe wurde es etwas komfortabler und die Reisezeit kürzer. 1911, als Freida aufbrach, waren die ganz schlimmen Zeiten vorbei.
Doch zurück zum Aufbruch. Gleich im ersten Raum findet man sich am rekonstruierten Bremerhavener Hafenkai wieder. Hier drängen sich Reisende, Gepäck stapelt sich, man hört Stimmen, leises Singen. Der Abschied – oft für immer – und die Spannung in der Luft, ist spürbar. Was ging in den Menschen vor, die sich entschieden hatten, die alte Heimat und ihr vergangenes Leben hinter sich zu lassen?
Stimmen im Zwischendeck
Schon im nächsten Raum finden sich Antworten. Lang erstreckt er sich, gesäumt von antik anmutenden Kästen, in denen die vielen Biographien der Auswanderer schlummern. Handwerker, Tagelöhner darunter, mit Beginn der Nazi-Herrschaft in Deutschland auch Intellektuelle und immer wieder Juden. Freida S. Enzenberg ging, weil sie zur Schule gehen wollte. Ihre Eltern konnten das Schulgeld nicht aufbringen, zu kinderreich war die Familie, als dass sie allen eine umfangreiche Bildung finanzieren konnte.
Prominente Stimmen für die Mutigen
An Hörstationen taucht man ein in die Lebensgeschichten der Auswanderer. Gelesen werden sie von so hochkarätigen Schauspielerinnen und Schauspielern wie Hannelore Hoger, Nina Petri oder Sky DuMont. Doch bevor wir mehr Texte über die Strapazen der Überfahrt hören, gehen wir an Bord. Über eine lange Gangway schreiten wir in den Bauch des Ozeanriesen – unter uns der Kai mit den Wartenden und umgeben vom leisen Plätschern des Hafenwassers. Ein neuer Raum öffnet sich und man spürt sofort: Man ist an Bord. Das Gebäude ist so konstruiert, dass man ein leichtes Schlingern verspürt – eine subtile, aber eindringliche Illusion.
Weiter geht es in die Unterkunft der dritten Klasse. Die Luft ist stickig, die Gänge eng. Man hört Stimmen, Husten und Jammern, liest Briefe und immer wieder laden Hörstationen ein, in die Gedankenwelt der Reisenden einzutauchen. Gedanken, die sie in Tagebüchern und in Briefen an ihre Liebsten festgehalten haben. Die Enge, die Ungewissheit, das monotone Rauschen des Meeres – all das wird spürbar. Und doch liegt auch Hoffnung in der Luft. Die Stimmung der Reisenden hebt sich, je moderner die Schiffe werden. Erinnern die ersten Überfahrten noch an einen Viehtransport der übelsten Sorte, sah das Leben an Bord 100 Jahre später auch für Reisende der dritten Klasse schon sehr viel positiver aus. Gar nicht zu reden von denen, die sich eine Fahrt in der ersten Klasse leisten konnten.


Grenzerfahrungen
Dann endlich: New York, Ellis Island, die Ankunftshalle. In Filmen sieht man die Warteschlangen, Kontrollstationen, medizinische Inspektionen, Interviews mit Beamten. Hier wird nachvollziehbar, wie willkürlich ein Leben weiter- oder zu Ende erzählt werden konnte Hier macht sich Freida älter als sie ist. Ein Jahr mehr auf dem Papier – nur dann winkt das neue Leben. Sie wird aufgenommen, bleibt in New York, wo ihr Bruder bereits lebt.
Sie arbeitet als Kindermädchen in einer jüdischen Familie. Die Abendschule bleibt ein Traum – Freida arbeitet viel, auch am Abend. Später, in der Fabrik, hat sie abends frei. Doch mit 20 fühlt sie sich zu alt für die Schule. Stattdessen schickt sie Geld nach Hause, damit andere nachkommen können. Mit Ende 20 heiratet sie. Ihre Tochter macht den Schulabschluss, den sie nie hatte. Die Enkeltochter wird Professorin.
1974 wandert Freida erneut aus: Mit ihrer Enkeltochter geht sie nach Israel. 1981 kehrt sie zurück nach New York. Drei Jahre später stirbt sie, 89-jährig. Ein Leben, das sich nicht in Zahlen fassen lässt, sondern in Gesten, Entscheidungen, stillen Opfern.
Der Rundgang endet nicht mit Freidas Geschichte. Er endet mit einem tiefen Respekt. Für die Millionen, die aufbrachen, ohne zu wissen, was sie erwartet. Für die, die ihre Träume opferten, damit andere sie leben konnten. Für die, die nie zurückkehrten – und für die, die es taten. Aber auch für jene, die den Aufbruch mit dem Leben bezahlten. Die Geschichte dieser Menschen zeigt: Das größte Abenteuer ist der Mut, sich aus dem Alten zu lösen und das Neue zu wählen.
Neues Zuhause, neue Geschichten
Ein zweiter, moderner Teil der Ausstellung ist Deutschland als Einwanderungsland gewidmet. Hier schlägt das Museum geschickt den Bogen von den Geschichten unserer Vorfahren, die auszogen, um anderswo zu leben, zu denjenigen, die heute nach Deutschland kommen. Es eröffnen sich Perspektiven auf die Gegenwart: persönliche Einwanderungsgeschichten, Objekte von Zugezogenen, multimediale Installationen, in denen man Prozessen und Biografien nachspüren kann. Offen, inklusiv, zum Nachdenken einladend.
Blick in die Zukunft
Und schließlich gibt es noch einen Raum, in dem Auswanderung in die Zukunft gedacht und das Auswandern ins Weltall thematisiert wird – ein kleiner, futuristischer Gegenentwurf zu den historischen Erzählungen.
Mut und Menschlichkeit – Das bleibt
Das Deutsche Auswandererhaus ist eine Einladung, mitzuleben und zu begreifen, wie schwer und wie groß das Abenteuer Auswandern war und ist. Am Ende bleibt vor allem eines: Respekt für Menschen wie Freida, Staunen über ihren Mut und das Gefühl, selbst ein wenig über den eigenen Horizont hinausgewachsen zu sein. Lehrreich, ja – aber vor allem bewegend. Man verlässt es nicht nur mit Wissen, sondern vor allem mit Demut.
| Deutsches Auswandererhaus | Columbusstraße 65 27568 Bremerhaven |
| Montag – Sonntag | 10 bis 18 Uhr |
Was das Museum sehenswert macht:
- Emotionaler Museumspfad voller Biographien
- Multimedial und atmosphärisch eindrucksvoll
- Mut und Menschlichkeit als zentrales Thema
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Bremerhaven Emigration Center: Courage in a Suitcase
At the Bremerhaven Emigration Museum, visitors immerse themselves in the life of Freida S. Enzenberg. In 1911, age 15, she set out alone for a new life, driven by hope and necessity. The museum makes her story—and many others—tangible and emotional: from the waiting room for third-class passengers, through the bustling quay and into the belly of a steamship. Darkness, cramped spaces, voices, letters and diaries bring fear and hope to life. On Ellis Island, Freida pretends to be older, is admitted, works in New York, but sends remittances home. Education remains a dream for her, but her daughter and granddaughter seize opportunities she did not have. The visit ends in reflection and deep respect for the millions who set out from Bremerhaven into the unknown. Modern exhibition sections connect past and present, showing Germany as a country of immigration and sharing individual stories. The Deutsche Auswandererhaus is not a conventional museum but an emotional experience—a monument to human courage and the will to cross borders.







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