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„Chowanschtschina“ in Salzburg: Ein russisches Lehrstück

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Das Finnish Radio Symphony Orchester unter Esa-Pekka Salonen, der Slowakische Philharmonische Chor, der Bachchor Salzburg und der Salzburger Festspiele sowie der Theater-Kinderchor präsentieren mit Chowantschtschina von Mussorgski in der Inszenierung von Simon McBurney eines der aufregendsten Werke des Musiktheaters. Von Stephan Reimertz.

Im Sprachgebrauch des süddeutschen und österreichischen Adels ist gemütlich, wenn man unter sich ist, und mühsam, wenn Leute aus anderen Schichten dabei sind. In diesem Sinne sind die Salzburger Sommerfestspiele mühsam und die Osterfestspiele gemütlich.

Eine Bühne in der Endlosschleife

Herbert von Karajan hat die Osterfestspiele 1967 gegründet, und die meisten Besucher von damals sind heute noch dabei. Insofern kann man sagen, dass die Gemütlichkeit der Osterfestspiele auch eine starke, auffallende Altersweisheit mit sich bringt. Methusalems Festspiele kommen indes keineswegs mit veralteten Produktionen daher. Im Gegenteil: Auch die neue Inszenierung der von Mussorgskis Oper Chowanschtschina durch den Theaterkünstler Simon McBurney erhebt der Anspruch szenischer Modernität. Allerdings steckt der 1957 geborene Engländer tief in der Stadttheaterdramaturgie der 1970er-Jahre. Im Großen Festspielhaus in Salzburg bekommen wir es mit einer düsteren Bühne zu tun, einer nach hinten ansteigenden Fläche als ewig funktionierendes dramaturgisches Vehikel und ewig wiederholten Videoprojektionen, wie wir sie uns alle seit zwanzig Jahren ansehen dürfen. Es gibt offenbar Regisseure und Bühnenbildner, die einfach nicht den Spaß daran verlieren. Für uns Zuschauer hat es indes längst etwas Beliebiges und Monotones, besonders dann, wenn keinerlei neue dramaturgische Ideen damit umgesetzt werden, wie es leider auch hier der Fall ist (Videodesign: Will Duke).

Chowanschtschina – ein russischer Mythos

Der Ausdruck Chowanschtschina (»Die Sache der Chowanskis «, » Chowanski -Debakel«) soll bereits auf Peter den Großen zurückgehen und war schon vor Mussorgskis Oper im Russischen sprichwörtlich. Im Russland des späten 17. Jahrhunderts tobte ein Machtkampf zwischen konservativen Strelitzen unter Fürst Iwan Chowanski, religiösen Altgläubigen und reformorientierten Adligen, während Zar Peter I. im Hintergrund den Umbruch vorbereitete. Die Traditionalisten wehren sich gegen die drohende theologische Modernisierung der Orthodoxie, verstricken sich in Intrigen und Fanatismus und scheitern schließlich tragisch. Der Titel bezieht sich also auf die traditionsbewahrende Bewegung um Fürst Chowanski, die sich gegen Peters Reformkurs stellte und letztlich unterging.

Mussorgskis Oper ist für unsere russischen Brüder und Schwestern also sehr viel mehr als nur Musiktheater; sie betrifft eine entscheidende Epoche ihrer Theologie, Geschichte und Identität. Eine Inszenierung auf der Opernbühne muss also versuchen, die Komplexität der theologisch-politischen Konflikte dieses Zeitalters verständlich zu machen. Zugleich wird angelegentliche Vorbereitung und Mitarbeit des Zuschauers verlangt. Eine vorbildliche Inszenierung ist jene von Claus Guth an der Staatsoper Unter den Linden, die zudem noch den Vorteil besitzt, eine ästhetisch durchgearbeitete Choreographie und eine packende Vielfalt der Bühnenbilder und Kostüme aufzubieten. Demgegenüber fällt die Salzburger Inszenierung (Bühne: Rebecca Ringst, Kostüme: Christine Cunningham) stark ab. Hier gebricht es weitgehend an Phantasie und Gestaltungsvielfalt. Die immer wieder überraschenden, nachgerade tanztheatralischen Konstellationen der Berliner Inszenierung schrumpfen in Salzburg zu herumlaufenden Chormassen und einer düsteren, nur mit Videoprojektionen der Sänger erhelltem Kastenbühne zusammen.

Oper zwischen Fragment und Vollendung

Nicht minder komplex als die Handlung und ihre theologisch-politischen Voraussetzungen ist die Entstehungs- und Aufführungsgeschichte dieser Oper. Das unvollendete Werk von Modest Mussorgski wurde später von Rimskij-Korsakow, Strawinsky, Ravel und Schostakowitsch weiter ausgeführt und orchestriert. Wir haben es also mit einem musiktheatralischen Palimpsest zu tun. Eine authentische Aufführung müsste alles tun, die Brüche, Widersprüche, Narben, Ergänzungen; kurz: die verschiedenen Ebenen der Partitur nicht etwa zu harmonisieren, sondern nachvollziehbar und hörbar zu machen.

Demgegenüber bietet der Komponist und Dirigent Esa-Pekka Salonen mit dem Finnish Radio Symphony Orchester bei den Osterfestspielen zwar einen musikalisch differenzierten, dramatisch packenden Orchesterpart, dieser allerdings ist nicht immer frei von Harmonisierungstendenzen, einem RSO-Sound für das Nachmittagskonzert. Verständlich freilich, wenn man die grundsätzliche Interessenlage eines Dirigenten berücksichtigt: Er will etwas Gerundetes abliefern. Bei der Chowanschtschina allerdings, einer Oper, die noch nie jemand, der Komponist inbegriffen, so gehört hat, wie sie gedacht war, wäre der Mut zum Unvereinbaren gefragt. Diese Forderung freilich muss allein deshalb schon paradox und schwer erfüllbar erscheinen, weil alle Nachbearbeiter dieses Werks hochbegabte Instrumentierer waren, denen es gerade um eine Harmonisierung der zerklüfteten Materialüberlieferung ging.

Eine Oper über den Preis des Wandels

Die Oper spielt im Russland des späten 17. Jahrhunderts während der Regentschaft von Zarin Sophia (vor der Machtergreifung Peters des Großen). Sie schildert die politischen und religiösen Spannungen in Russland in der Zeit der Modernisierung und Westorientierung.

Drei Machtgruppen kämpfen um die Vorherrschaft: Die altgläubigen Strelitzen unter Fürst Iwan Chowanski. Der ukrainische Bassist Vitalij Kowanjow gibt den Fürsten mit imponierender optischer und stimmlicher Präsenz. Die altorthodoxen Altgläubigen (raskol’niki), angeführt von der Gläubigen Marfa, hier von der russischen Mezzosopranistin Nadeshda Kariazina mit einer runden, geheimnisvollen und nachgerade unheimlichen Stimmgestaltung unvergesslich verkörpert. Der westlich orientierte Reformpolitiker Fürst Golizyn, hier von dem US-amerikanischen Tenor Matthew White sichtbar und hörbar als Vertreter einer heraufdämmernden modernen Zeit gestaltet. Der aufstrebende Zar Peter tritt nicht auf, ist aber spürbar präsent. Um ihn geht es letztendlich, allein die Darstellung von Angehörigen des Hauses Romanow auf der Bühne war zu Mussorgskis Zeiten noch verboten.

Die Oper hat also einen politisch-theologischen Lehrcharakter: Sie zeigt den Widerstand gegen Peters Reformen. Die traditionellen Kräfte sehen in ihm den Zerstörer der russischen Orthodoxie und des alten Russlands. Die Altgläubigen lehnen die Reformen der orthodoxen Liturgie ab und bereiten sich auf den Märtyrertod vor. Politische Intrigen führen zur Ermordung Iwan Chowanskis und zur Ausschaltung Golizyns. Am Ende verbrennen sich Marfa und ihre Glaubensbrüder in einem Akt religiösen Fanatismus selbst. Die neue Zeit Peters des Großen kann beginnen. Wir sehen vor uns ein düsteres Bild des alten Russlands, das sich nicht retten kann, weil es in der Vergangenheit verharrt.

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“Khovanshchina” in Salzburg: a Russian didactic play

At the Salzburg Easter Festival, Simon McBurney presents Mussorgsky’s Khovanshchina in a dark, video-heavy staging. The opera depicts a 17th-century Russian power struggle between Old Believers, reformers, and the rising Tsar Peter. However, the production lacks visual creativity and dramaturgical depth.

Esa-Pekka Salonen conducts the Finnish Radio Symphony Orchestra with nuance, though the interpretation tends to smooth out the opera’s inherent ruptures. Vitalij Kowaljow impresses vocally as Prince Khovansky, while Nadeshda Kariazina’s Marfa is haunting and expressive.

The opera is a musical palimpsest—reworked by Rimsky-Korsakov, Stravinsky, Ravel, and Shostakovich—posing a challenge to any director. While Claus Guth’s Berlin version offered scenic richness, McBurney’s approach fails to capture the complexity of the work. Still, the opera remains a compelling reflection on identity, tradition, and the price of progress.

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