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Das Genfer „Nabucco“ – Experiment

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Von Barbara Röder.

Es ist heiß in Genf. Wie etwa damals zur Zeit in der die Oper „Nabucco“, die Giuseppe Verdi mit einem Schlag zum Nationalhelden machte, spielt. Sein vollsüffiger Gefangenenchor-Dauerbrenner „Va pensiero“, „ Flieg Gedanke auf goldenen Flügeln“ ist ein tönender Monolith unter den Freiheitsgesängen: ein Bekenntnis des Hoffens, des Betens und des Glaubens an eine bessere Welt. 

In Genf lud Intendant Avil Cahn zum Finale der Saison des Grand Théâtre de Genève, die als gedanklich roter Faden „Mondes en migration“ durchzog, die brasilianische Schauspielerin und Theaterregisseurin Christiane Jatahy ein, Verdis „Nabucco“ neu und aktuell in Szene zu setzen. 2022 erhielt Jatahy den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig für ihre Theaterwerke. Einen Namen machte sie sich durch Inszenierungen, die allesamt in der Jetztzeit angesiedelt sind, das Leben und Leid von Minderheiten in den Fokus nehmen, die Luft des brisant Aktuellen atmen.

Und so stehen Völker, welche aus ihrer Heimat vertrieben, in der Fremde Heimat suchen bei Jatahy im Zentrum ihrer szenischen Betrachtung. Verdi hingegen entwickelt aus dem Volk heraus agierende Einzelschicksale, in welchen wir uns erkennen, wiedererkennen. Die letzten zwei Akte des „Nabucco“ finden zunehmend auf leerer Bühne statt, also fast halbszenisch. Eine Überlegung kommt auf, während dieses schlüssigen Nabucco-Experiments: Welche andere Opernikone hätte zu Christiane Jatahys Konzeption gepasst? Wir sind an Verdis/Schillers „Don Carlo“ …Geben Sie Gedankenfreiheit, Sir“-Ausspruch oder Rossinis „Wilhelm Tell“-Gesang „Freiheit, komm wieder vom Himmel herab“ erinnert. Es sind plausible Querverbindungen, die uns das Regieteam um die gefeierte Regisseurin sichtbar macht.

Foto: Barbara Röder

Im prall gefüllten Genfer Opernhaus erkennen wir uns wieder in dem gewaltig großen Spiegel mit Neigungsachse. Noch schnell das Handy verstauen und die Reflexion des gesamten Opernhauses samt Publikum bestaunen. Das Orchester und Dirigent Antonino Fogliani spiegeln sich auf der überdimensionalen Aktionsfläche. So sollen wir mit dem Chor, den Akteuren, den Migranten, die Jatahy als stummes Volk unter den Chor mischt, verschmelzen und eins werden. Das Verdische Musikdrama ist ein guter Kleister dafür. Deswegen sind einzelne Damen des Chores im Zuschauerraum platziert, erheben sich und ihre Stimme. Teile des Herrenchores singen von der Seite. In der räumlichen Konzeptionsidee von Thomas Walgrave und Marcelo Lipiani erblicken wir auf der Bühne in viel grelles Flutlicht und ein vom Wasser umspültes,  quadratisches Floß. Dort liegt der hellbraune Herrschaftsmantel, den Abigaille, Nabuccos Pseudotochter sich überzieht. Während des „Va pensiero“ schälen sich Migranten (stumme Rollen) aus dem an der Rampe stehenden Chor heraus und fliehen in alle Richtungen. Sie werden gefilmt von Kameras, die wachsam wie ein „Big Brother“ dauerzugegen sind. Die Frage warum, obwohl die Gegenwart reflektiert werden soll, im Bühnengeschehen keiner der singenden oder stummen  Akteure ein Handy zückt oder auf ein Display blickt – wer kann heute schon ohne Handy sein, gerade als Fremde in einem unbekannten Land? – bleibt offen. Nabuccos Wahnmoment, in welchem dieser sich als Gott feiert und das darauf folgende Zerbersten des Tempels hinterlässt kaum Eindruck. Eine herunterkrachende Decke, das war‘s. Die jetztzeitigen Kostüme entwarf An D’Huys. Batman Zavareze zeichnete sich für die audiovisuelle Koordination des Regie-Oeuvres von Szenensetzerin Christiane Jatahy verantwortlich.

Jatahy bietet uns eine genreübergreifende Melange an visuellen Einfällen an und setzt auf die dramatisch immanenten Augenblicken eines Stückes. Bedeutsam für die Deutung der Inszenierung ist, dass das damalige Babylon dem heutigen Gebiet des Irak gleichzusetzen ist. In Verdis vertrackter Geschichte um „Nabucco“, dem biblischen Eroberer Jerusalems und heidnischen König der Babylonier, der die feindlichen Hebräer unterjocht, wahnsinnig vor Ruhm und Gotteslästerung wird, um sich dann geläutert zum israelischen Glauben zu bekennen, gibt es auch noch dessen tief verletzte Tochter Abigaille, die ebenso ruhmsüchtig wird. Und es gibt ihre Schwester Fenena, die Ismael liebt und fast zu Tode kommt sowie der Hohepriester Zaccaria, den die Regisseurin als manipulativen Machtmenschen deutet. Diesen Zaccaria singt Riccardo Zanellato mit zurückhaltender, klarer doppelzügiger Akkuratesse. Saioa Hernández (Abigaille) steckt in männlich wirkenden braunen Hosen. Sie verkörpert mit Anmut eine berechnende Business-Lady. Ihre Stimme klingt drahtig, metallisch in der Höhe und ist trotz allem mit einer rassigen Tiefe ausgestattet. Hernández gestaltet glaubhaft aus der Tiefe des Raumes die mörderische Partie. Nicola Alaimo liebt seine Rolle als Nabucco, die er noch prägnanter, verzweifelter und stimmgewaltiger ausfüllen könnte. Fenena, Abigailles Schwester, die eine weiße Burka übergestreift bekommt, zwangsverheiratet werden soll und sich rettend zum israelischen Glauben bekennt, wird von Ena Pongrac mit mezzoschönem Timbre, aber etwas zu zaghaft gesungen. Gewichtig, flexibel und mit stählender Tenorpräsenz agiert Davide Giusti als Ismaele. Die Sopranistin Giulia Bolcato (Anna) sticht mit ihrem leichten, schönen stimmlichen Fluidum hervor. Omar Mancini (Abdallo) und William Meinert (Il Gran Sacerdote) ergänzen das insgesamt gut intonierende Ensemble.

In eine klangvolle Verdi-Rausch-Italianità versetzt uns die von Dirigent Antonino Fogliani feingliedrig aus dem Rossini-Belcanto und aus der musikalisch schicksalhaft düsteren Romantik kommende Potpourri-Ouvertüre. Alle Themen der Oper vereint Fogliani hier zum auditiven Fest, welches das Orchestre de la Suisse Romande tonverliebt und ganz dem Verdisound verpflichtend präsentiert.

Das satte Vibrato der Posaune erinnert an alte Instrumente, der Vor-Wagner-Epoche. Das Ende der Oper schließt ungewöhnlich: mit einem kurzen, neu hinzu komponierten Fluidum von Astralklängen von Antonino Fogliani. Ein Intermezzo symphonique, das zum nochmals aber A cappella tönenden „Va pensiero“ überleitet. Der letzte Gesang der Oper gehört nicht der reumütig sterbenden Abigaille, sondern dem Volk, dessen klingender Wunsch vom Chor aus dem Zuschauerraum auf die Bühne strahlt.

Was vom begeisterten Publikum gefeiert wurde, ist ein vollends gelungenes Experiment. Jatahy illustres Nabucco-Spektakel ist einzigartig. Die Musik Verdis ging dabei ohne Wenn und Aber als Sieger vom Genfer Nabucco-Schauplatz.

Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.

The Geneva „Nabucco“-Experiment
It’s hot in Geneva. Like back then at the time in which the opera „Nabucco“, which made Giuseppe Verdi a national hero in one fell swoop, is playing. His full-bodied long-running prisoner choir favorite „Va pensiero“, „Fly thought on golden wings“ is a sonorous monolith among freedom songs: a confession of hope, prayer and belief in a better world.

In Geneva, Artistic Director Avil Cahn invited the Brazilian actress and theater director Christiane Jatahy to stage Verdi’s „Nabucco“ in a new and up-to-date way for the finale of the season at the Grand Théâtre de Genève, which ran through „Mondes en migration“ as a central theme. In 2022 Jatahy received the Golden Lion at the Venice Biennale for her theatrical works. She made a name for herself with productions that are all set in the present, focus on the life and suffering of minorities, breathe the air of explosive current affairs.

And so peoples who have been driven out of their homeland and are looking for a home in a foreign country are the focus of Jatahy’s scenic observation. Verdi, on the other hand, develops individual destinies that act out of the people, in which we recognize ourselves, recognize ourselves again. The last two acts of „Nabucco“ increasingly take place on an empty stage, i.e. almost semi-staged. A consideration arises during this coherent Nabucco experiment: What other opera would have suited Christiane Jatahy’s conception? Verdi/Schiller’s „Don Carlo“ …Give freedom of thought, sir“, Rossini’s „William Tell“ chant „Freedom, come down again from heaven“. There are plausible cross-connections that the team of directors around the celebrated director makes visible to us.

In the packed Geneva Opera House, we recognize ourselves in the huge mirror with a tilting axis. Quickly stow away your mobile phone and marvel at the reflection of the entire opera house and the audience. The orchestra and conductor Antonino Fogliani are reflected in the oversized action area. This is how we should merge and become one with the choir, the actors, the migrants that Jatahy mixes with the choir as a mute people. The Verdian Music Drama is a good glue for that. That is why individual ladies of the choir are placed in the auditorium, rise and raise their voices. Parts of the men’s choir sing from the side. In the spatial conception of Thomas Walgrave and Marcelo Lipiani, we see a lot of bright floodlights on the stage and a square raft surrounded by water. There lies the light brown mantle of dominance that Abigaille, Nabucco’s pseudo-daughter, puts on. During the “Va pensiero”, migrants (silent roles) peel themselves out of the choir standing at the ramp and flee in all directions. They are filmed by cameras that are always on the alert like a „Big Brother“. The question why, although the present is supposed to be reflected, none of the singing or mute actors pulls out a mobile phone or looks at a display on stage – who can be without a mobile phone today, especially as a stranger in an unknown country? – stays open. Nabucco’s moment of madness in which he celebrates himself as a god and the ensuing shattering of the temple leaves little impression. A crashing ceiling, that’s it. An D’Huys designed the current costumes. Batman Zavareze was responsible for the audiovisual coordination of the director’s oeuvre by set designer Christiane Jatahy.

Jatahy offers us a cross-genre melange of visual ideas and relies on the dramatically immanent moments of a piece. It is significant for the interpretation of the staging that the Babylon of that time can be equated with today’s Iraq. In Verdi’s intricate story about „Nabucco“, the biblical conqueror of Jerusalem and pagan king of the Babylonians, who subjugates the enemy Hebrews, becomes insane with fame and blasphemy, only to then purify himself and profess the Israeli faith, there is also his deeply injured daughter Abigaille, who also becomes addicted to fame. And there is her sister Fenena, who loves Ismael and almost dies, and the high priest Zaccaria, whom the director interprets as a manipulative power man. Riccardo Zanellato sings this Zaccaria with restrained, clear double-movement accuracy. Saioa Hernández (Abigaille) is dressed in masculine-looking brown trousers. She gracefully embodies a calculating business lady. Her voice sounds wiry, metallic in the high register and is nevertheless equipped with a racy depth. Hernández creates the murderous part credibly from the depths of the room. Nicola Alaimo loves his role as Nabucco, which he could fill even more concisely, desperately and with a powerful voice. Fenena, Abigaille’s sister, who wears a white burqa, is about to be forced into marriage and professes her faith in Israel to save herself, is sung by Ena Pongrac with a beautiful mezzo timbre, but a little too timidly. Davide Giusti acts as Ismaele, weighty, flexible and with a steely tenor presence. The soprano Giulia Bolcato (Anna) stands out with her light, beautiful vocal fluid. Omar Mancini (Abdallo) and William Meinert (Il Gran Sacerdote) complement the overall well-voiced ensemble.

Conductor Antonino Fogliani’s delicate potpourri overture, which comes from the Rossini bel canto and the musically fateful, gloomy romanticism, transports us into a sonorous Verdi-Rausch-Italianità. Fogliani combines all the themes of the opera here in an auditory festival, which the Orchester de la Suisse Romande presents with a love of sound and a commitment to the Verdi sound.

The rich vibrato of the trombone is reminiscent of old instruments, the pre-Wagner era. The end of the opera is unusual: with a short, newly composed fluid of astral sounds by Antonino Fogliani. An Intermezzo symphonique, which leads to the “Va pensiero”, which again sounds a cappella. The last song of the opera does not belong to Abigaille, who is dying in remorse, but to the people, whose sounding wishes radiate from the choir from the auditorium onto the stage.

What was celebrated by the enthusiastic audience is a completely successful experiment. Jatahy’s illustrious Nabucco extravaganza is one of a kind. Verdi’s music won without any ifs or buts from the Geneva Nabucco venue.

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