Von Barbara Hoppe.
Es ist die einzigartige Atmosphäre, die George Simenon mit nur wenigen Worten zu kreieren vermag. Eine Straße, eine Person, ein Hauseingang, ein Blick auf das Wetter und schon ist sie da, diese ganz besondere Stimmung, die einen Maigret-Roman so unverwechselbar macht und weswegen wir die Geschichten um diesen großen, schweren Kommissar mit der Pfeife so lieben. Es sind ganz sicher nicht – und schon gar nicht aus der Perspektive eines Lesers des 21. Jahrhunderts – die Fälle, die manches Mal arg konstruiert wirken. Es ist auch nicht das Verhalten dieses großen, schweren Kommissars mit der Pfeife, der Kleinganoven gern auch mal von oben herab behandelt und Frauen mit „Kleines“ anspricht, sofern sie nicht in der gesellschaftlichen Stellung weit über ihm stehen. Und doch ist es dieses Verhalten eines Mannes aus der Mitte der Gesellschaft in einem Frankreich der dreißiger Jahre, das ihn uns so sympathisch macht. Hier agiert keine Upper Class, hier ermittelt ein Mann, der sich bescheiden einen gewissen Wohlstand erarbeitet hat, brav verheiratet ist, seinen Job akribisch macht und sehr ernst nimmt, auch wenn Bier und Cognac so selbstverständlich dazu gehören wie das Essen im Bistro und Sandwiches im Büro. Eine Literaturwissenschaftlerin fragte in ihrer Arbeit einmal, was Madame Maigret eigentlich mit der Suppe mache, die ihr Mann nie esse, da ihn seine Fälle selten zum Essen nach Hause führten.
So ist es auch in „Maigret im Haus der Unruhe“. Madame Maigret taucht hier sogar fast gar nicht auf und dann auch nur in der Rolle der eifersüchtigen Ehefrau, völlig im Gegensatz zu den Romanen der Maigret-Reihe. Überhaupt ist in diesem frühen Maigret-Roman, der als der erste seiner Art gefeiert wird, noch einiges anders. Maigret hat zwar bereits alle Züge des eher grimmigen Kommissars, der administrative Arbeiten hasst und besonders schlechte Laune hat, wenn seine geliebte Pfeife nicht zu finden ist oder entzwei geht, doch ist er hier noch lange nicht der in sich ruhende Charakter späterer Zeit. Im Gegenteil: Als er eine junge Frau etwas patriarchalisch mit „Kleines“ anspricht, liest sie ihm gehörig die Leviten und auch die Atmosphäre in der Wohnung der verdächtigen Familie Gastambide bringt ihn aus dem seelischen Gleichgewicht.
Es sind gerade diese Abweichungen, die das Besondere an dieser nun erstmals ins Deutsche übersetzten Geschichte ausmachen und die Persönlichkeit des Kommissars weit mehr differenzieren als in den späteren Texten. Streng genommen ist es auch noch nicht „der“ Maigret, den George Simenon in 75 Romanen – dieses Mal nicht mehr unter Pseudonym – auf Verbrecherjagd schickt. Es ist eine Figur, die ein gewisser George Sim, eines von Simenons Pseudonymen, erfand und als Ermittler ausprobierte. Denn er wusste: eines Tages wollte er einen Kriminalroman schreiben. Seinen Protagonisten musste er allerdings noch finden. Dafür schickte er lange vor Maigret einige Ermittler ins Rennen, darunter auch in „L’amant sans nom“ einen Inspektor No. 49, einen Maigret-Prototypen, freilich noch ohne Namen. Erst in vier Groschenromanen, die Simenon ebenfalls unter seinem Pseudonym George Sim schrieb, taucht der Pfeife rauchende Kommissar erstmals namentlich auf. Der vierte dieser Groschenromane ist „Maigret im Haus der Unruhe“. Geschrieben 1930, ist er der erste, in dem Maigret nicht nur eine Neben-, sondern die Hauptrolle spielt. So taucht bei ihm eines Nachts im Kommissariat eine Frau auf, die behauptet, einen Mann getötet zu haben. Sie verschwindet, als Maigret kurz den Raum verlässt. Doch er trifft sie wieder, als er zu einem Mord gerufen wird, der in dem Haus stattgefunden hat, in dem die junge Frau wohnt. Seine Ermittlungen konzentrieren sich bald auf ihre Familie, die eigenartigen Gastambides. Schließlich löst er den Fall quasi im Alleingang, nur der Polizeibürodiener und sein Assistent Torrence erhalten kurze Gastauftritte.
Ist es nun der 0. Fall des Kommissar Maigret, den wir hier lesen? Ja und nein. George Simenon begann seine eigentliche Maigret-Reihe erstmals unter seinem Klarnamen mit „Pjetr, der Lette“ und dessen Veröffentlichung im Jahr 1931, wie er selbst nicht müde wurde zu erzählen. Eine ganze Entstehungslegende rankt sich um diesen Roman, während das aktuelle Buch noch unter Pseudonym zunächst nur in der Zeitung erschien. Doch „Maigret im Haus der Unruhe“ hat bereits alle Zutaten für einen gelungenen, ja außergewöhnlich fein ausdifferenzierten Maigret-Roman, in dem die berühmte Intuition des Kommissars und sein Charakter außerordentlich herausgearbeitet sind.
Also ja, feiern wir diese Neuentdeckung als ersten dieser Reihe und genießen die wunderbare, etwas schwermütige Atmosphäre in einem Paris des Jahres 1930, das George Simenon so meisterhaft mit wenigen Worten stimmungsvoll zu zeichnen vermag.
George Simenon
Maigret im Haus der Unruhe
Kampa Verlag, Zürich 2019
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