1974 geschrieben, verschwand das Manuskript „Die zweite Frau“ von Günter Kunert 45 Jahre in der Schublade. Jetzt zog es der 90-jährige Autor wieder hervor. Von Barbara Hoppe.
Am 6. März feierte Günter Kunert seinen 90. Geburtstag. Geboren in Berlin, verließ er 1979 die DDR und lebt seitdem in Itzehoe. Unzählige Romane, Essays, Gedichte, Erzählungen, Theaterstücke und Filmdrehbücher sind während dieses langen Lebens entstanden. Darunter auch „Die zweite Frau“. Ein Roman aus dem Jahr 1974, der aber in der DDR – so war dem Autor klar – nicht zu veröffentlichen war. Das Manuskript verschwand irgendwohin. Erst 45 Jahre später taucht es wieder auf und findet endlich zu den Lesern.
Und was liest dieser Leser? Einen Skandal, ohne Frage. Es ist der Wutausbruch eines Mannes, der zwei Jahre später gegen die Ausweisung Wolf Biermanns protestieren sollte und fünf Jahre später selbst den real existierenden Sozialismus verlässt. Dieses Buch hätte tatsächlich nie in der DDR veröffentlicht werden können. Günter Kunert rechnet hier mit allem ab, was ihm an dem Land gehörig auf die Nerven geht. Die Mangelwirtschaft, die Zensur, die Unfreiheit per se, die Staatssicherheit – alles findet seinen Platz in diesem überbordenden Gedankenfluss seines Protagonisten Barthold.
Dieser, fünfzigjährig, sucht für seine Frau Margarete Helene ein passendes Geschenk zum 40. Geburtstag. So richtig fällt ihm aber nichts ein, die Mangelwirtschaft tut ihr Übriges und schließlich landet Barthold mit Westgeld im Intershop. Dort kommt er ins Gespräch mit anderen Kunden und er, der begeisterte, aber derzeit krankgeschriebene, Archäologe zitiert Michel de Montaigne, was eine aberwitzige Verkettung von Staatsicherheitaktionen zur Folge hat, denn nun unterstellt man dem Ahnungslosen Westkontakte zu einem gewissen Montheine. Nicht einfacher wird es für den Gebeutelten dadurch, dass die geliebte Angetraute ihm den Mord an einer verflossenen Freundin zutraut, denn in der Ruine des Gartenhäuschens tauchen nicht nur ein BH gigantische Ausmaßes auf, sondern auch menschliche Knochen.
Man spürt, wie viel Spaß es Kunert macht, seiner Wut freien Lauf zu lassen. Unschwer zu erkennen allein durch die zahlreichen absatzlosen Seiten, durch die sich das Auge des Lesers kämpfen muss. Lustvoll mäandert er von Thema zu Thema, von der Perspektive Bartholds zu der Margarete Helenes und zurück, nur, um zwischendurch die Rolle des allwissenden Erzählers einzunehmen. Eine verhängnisvolle Verkettung von Fehlschlüssen wird so zur bissigen Satire über den real existierenden Sozialismus.
Und doch fragt man sich: Warum ausgerechnet jetzt die Veröffentlichung? Wer die DDR kannte und in ihr gelebt hat, wird sich zweifellos in der Geschichte wiederfinden. Wer sie kannte und nicht dort lebte, wird vielleicht mit Interesse lesen. Und die jungen Leser? Für die dürfte der Roman ein eigenartiges Relikt sein, schwer nachvollziehbar, wenn überhaupt verständlich. Nun soll dies nicht als Qualitätsmerkmal dienen. Nicht immer darf ein Leser frei von geschichtlichem Wissen sein, um ein Buch zu verstehen. Doch hat die Brisanz des Romans über die Jahrzehnte erheblich verloren. Dieser Wutanfall aus dem Jahr 1974 wäre 1980 ein Bestseller geworden, Heute ist er literarisch eher ermüdend, wenn auch als Zeitdokument durchaus zu würdigen.
Günter Kunert
Die zweite Frau
Wallstein Verlag, Göttingen 2019
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