Die norwegische Band Wardruna veröffentlicht mit „Kvitravn“ ein eindringliches Plädoyer für Artenvielfalt und Nachhaltigkeit. Von Ronald Klein.
Die norwegische Folk-Formation wurde einem breiten Publikum durch die Musik zur TV-Serie Vikings bekannt. Markenzeichen der Band wurde ihr musikarchäologischer Ansatz: Zum Einsatz kommen ausschließlich Instrumente, die bereits vor hunderten, teilweise tausenden von Jahren entwickelt wurden. Den Gesang begleiten das Ziegenhorn, die Kravik-Leier und die Tagelharpa (Pferdeschwanzhaar-Harfe)– der typische Wardruna-Klangkosmos hebt sich aufgrund zahlreicher eigens hergestellter Instrumente deutlich von Formationen ab, die ebenfalls versuchen, einen ursprünglichen Klang zu kreieren. „Uns geht es nicht darum, den Anschein zu erwecken, authentisch zu sein. Das kann nicht funktionieren, wir leben im Hier und Jetzt und können uns lediglich mit einem intensiven Quellenstudium einem vermeintlich originalen Klang annähern. Vermeintlich heißt, dass wir glauben, dass Musik damals so geklungen haben könnte. Uns interessiert viel mehr, bestimmte Techniken aus vergangener Zeit anzuwenden und weniger bereits Vorhandenes zu reproduzieren.“
Mehr Fragen als Antworten
Selviks Beschäftigung mit Primärquellen geht mit kulturwissenschaftlichen Methoden einher. Längst ist er gern gesehener Gast an den Universitäten. „Ich gehe noch einen Schritt weiter als Musikhistoriker und verbinde Theorie und Praxis.“ Anhand seiner Texte und der Musik Wardrunas erläutert er bei Symposien die mögliche Kunstpraxis vergangener Zeiten. „Den Aspekt der Weitergabe des Wissens finde ich sehr spannend.“
Die Texte besitzen für den Musiker einen großen Stellenwert. „Ich bin natürlich sehr von der alten norwegischen Poesie beeinflusst“, erklärt Selvik und überrascht damit nicht. „In der traditionellen Poesie gibt es sehr bildhafte Gedichte, voll von Metaphern und Allegorien. Mir ist es wichtig, dass meine Texte unterschiedliche Ebenen besitzen. Das funktioniert im Endeffekt nur, wenn ich eine Distanz zu den Dingen zulasse, die ich beschreibe. Nur dann kann der Hörer, diese Lücken füllen. Die ältesten Beschreibungen der Runen eröffnen viel mehr Fragen, als dass sie Antworten geben. Ich finde das faszinierend. Das befeuert meine Neugier. Selbst so schreiben zu können, ist eine große Herausforderung. Dazu gehört natürlich auch die Form. Die alten Metren folgen einer strengen Form, sodass an den Versen sehr lange gearbeitet werden muss. Ich finde diese Metren aber inzwischen sehr logisch. Nur weil etwas sehr kompliziert ist, sollte man die Auseinandersetzung damit nicht scheuen.“
Respekt für Flora und Fauna
So geht der Titel des neuen Albums „Kvitravn“ (dt. „weißer Rabe“) über die Assoziation mit Odin hinaus. „Natürlich spielen die Raben in der nordischen Mythologie eine wichtige Rolle“, betont Frontmann Einar Selvik. „Aber es geht bei dem Album weniger um eine Beschäftigung mit diesem Themenkreis. Es gibt in vielen Kulturen weiße Ausnahmen andersfarbiger Tiere. Seien es Elefanten oder Gorillas in Afrika oder weiße Wölfe bei den indigen Völkern Nordamerikas.“ Entgegen früherer Annahmen handelt es sich beim weißen Raben keinesfalls um einen Albino, sondern um seine sehr seltene Unterart des Kohlraben, der vor allem auf den Färöer Inseln lebte und mittlerweile ausgestorben ist. „Diese weiße Tiere galten als Propheten und Wächter einer anderen Welt.“
Die Texte der Platte setzen sich mit dem Animismus – dem Glauben an eine beseelte Umwelt – auseinander. Damit geht ein Plädoyer für Respekt vor Flora und Fauna einher. „Der Song ,Grá‘ handelt davon, wie einst Mensch und Wolf in unmittelbarer Nachbarschaft lebten“, erläutert der Musiker. Das in der Vergangenheit verbreitete Tier wurde in Norwegen erst 1972 unter Schutz gestellt – viel zu spät zu dieser Zeit war der Wolf so gut wie ausgestorben. Man schätzt, dass die Population derzeit nur noch aus 100 Tieren besteht. „Die moderne Landwirtschaft verträgt sich nicht mit freilebenden Wölfen. Ich möchte kein romantisches Bild zeichnen, das den Wolf verklärt. Die Beziehung zwischen Wolf und Menschen ist problematisch und stellte schon immer eine Herausforderung dar. Aber dass wir überhaupt wieder Wölfe in Norwegen haben, hat einen Wert“, stellt Selvik klar. „Die Natur als heilig zu betrachten, hat primär eine ethische Implikation. Es bedeutet, dass wir Menschen nicht einfach machen können, was wir wollen.“
Selvik stellt das Recht des Stärkeren explizit infrage: „Wer sind wir überhaupt, dass wir uns anmaßen, Tiere in der Landwirtschaft zu quälen und andere Arten auszurotten, bloß weil sie für uns unbequem erscheinen? Dieses Recht haben wir nicht. Aber statt sich damit auseinandersetzen, dass der Wolf wie jedes andere Lebewesen seine Berechtigung hat, möchte man weitermachen wie bisher. Es ist ein großes Problem, dass der Mensch Nachhaltigkeit weiterhin ignoriert und die Ökosysteme vollkommen in Wanken bringt.“
Wardruna
Kvitravn
Columbia Local (Sony Music), 2020
Bei amazon kaufen
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.