Der Tänzer und Choreograph William Forsythe kam vor vierzig Jahren nach Frankfurt a. M. und revolutionierte das moderne Tanztheater. Sein ebenso intellektueller wie expressiver neuer Stil und sein ungewohntes Verständnis der Aufgabe eines Ballettensembles schöpfte aus vollkommender Kenntnis und Beherrschung des klassischen Balletts wie des Modern Dance. Heute wird er 75 Jahre alt. Von Stephan Reimertz.
William Forsythe: Revolutionär des modernen Tanztheaters
»O Mensch lerne tanzen!« forderte Augustinus. »Sonst wissen die Engel im Himmel nichts mit dir anzufangen.« Wenigstens in dieser Rücksicht sind die Deutschen, dieses seltsame Volk der Bei-Rot-nicht-über-die-Straße-Geher und zugleich Autobahnraser, dem Kirchenvater gefolgt. Deutschland ist Ursprungsland des modernen Tanztheaters, man denke nur an Rudolf von Laban und Kurt Jooss, an Pina Bausch und Martin Schläpfer. Zudem ist es ein schönes Kompliment für die Tanznation, dass viele internationale Choreographen und Tanzkünstler aus aller Welt in dieses Land kommen, weil sie es als die Heimat des modernen Tanzes betrachten. Mary Wigman, Tatjana Gsovsky, John Cranko und John Neumeier begründeten eine Tradition, in die auch das heutige Geburtstagskind gehört. Es soll in Stuttgart gewesen sein, wo William Forsythe, echter New Yorker und weltweiter Botschafter einer internationalen urbanen Kultur, anfing zu choreographieren. Primaballerina Marcia Haydée soll den jungen Tänzer Forsythe zu seiner ersten Choreographie, Urlicht, ermutigt habe. John Cranko hatte ihn in die schwäbische Hauptstadt geholt, aus der der aus Südafrika stammende Choreograph eine Kapitale des erzählerischen Balletts mit einem Quartett von vier überragenden Tänzerpersönlichkeiten machte.
John Neumeier aus Wisconsin, von 1973 bis 2024 Ballettdirektor in Hamburg, wiederum darf man bescheinigen, den Brückenschlag getan zu haben zwischen Crankos altmodischen Tanzerzählungen und Forsythes aberwitzig virtuoser Kunst, die sich auf einer neuen Ebene bewegt. Neumeier brachte den Mut auf, klassisch-erzählerische Strukturen mit maximaler Abstraktion zu verbinden, oft am selben Abend. Die Landebahn für William Forsythe, so könnte man sagen, war ausgerollt.
Radikaler Neuanfang an der Frankfurter Oper
Als Forsythe 1984 als Ballettdirektor an die Frankfurter Oper kam, war die Welt des Tanzes, namentlich in Deutschland, auf seinen radikalen Neuanfang also gar nicht so schlecht vorbereitet. Mit Abenden wie Artifact, Isabelle’s Dance oder der Befragung des Robert Scott setzte er ein neues Niveau des virtuosen, vielschichtigen neuen Tanzes, welches das jahrhundertealte Repertoire in sich aufgespeichert hat. Schon ein flüchtiger Blick auf seine Kompanie zeigte, dass sich hier etwas ganz Neues abspielen würde. Diese Tänzer sahen völlig unterschiedlich aus und wirkten wie ein zusammengewürfelter Haufen. Der einzelnen Tänzerpersönlichkeit wurde eine ganz neue Bedeutung beigemessen, freilich wurde ihr ein professionelles, künstlerisches wie technisches, Niveau abverlangt, das über das Gewohnte hinausging. Kein Wunder, dass sich bald eigenständige Choreographenbegabungen herausbildeten, wie z. B. Amanda Miller, die noch in Frankfurt ihre ersten eigenen Uraufführungen erleben konnte. Ein wichtiges Moment war auch die Bedeutung von Forsythes theatralischer Sendung als Korrektiv gegen den permanenten Missbrauch der Opernregie durch das sogenannte Regietheater. Doch die Schildbürger von Frankfurt schreckten nicht vor der monumentalen Eselei zurück, Forsythe zum Entsetzen nicht nur der Tanzwelt nach Ende der Spielzeit 2003/04 ziehen zu lassen. Die Stadt verabschiedete sich vom Besten was sie hatte. Es war die Geburtsstunde der unabhängigen Forsythe Company.
Tanz als visuelle Kunst: Forsythes einzigartige Perspektive
William Forsythe, der schon als Schüler mehrere Instrumente spielte und im Chor sang, hat sich früh ein sehr breites Wissen, eine äußerst vielseitige künstlerischen Praxis aufgebaut. Sein Denken ist ungewöhnlich und faszinierend. Er denkt Tanztheater als visuelle Kunst, in welcher Abstraktion und expressive Theatralik keine Gegensätze darstellen, sondern sich gegenseitig bedingen und steigern. Da er Choreografie als organisatorisches Prinzip auffasst, bietet es sich an, Film, Installation und webbasierte Formate, gesprochene Sprache und experimentelle Musik einzubeziehen. Nennen wir als Beispiel eine Installation genannte Produktion im Louvre im Jahre 2006. Dieses komplexe Werk ist ein Modell dafür, wie Forsythe Tanzkunst mit anderen Künsten verknüpft, ihre Ikonographie dadurch ausweitet und den Tanz damit auf eine andere Ebene erhebt: Ausgehend von dem letzten, unvollendeten Bild des Malers Francis Bacon nahm Forsythe dessen elliptische Bewegungen auf und tanzte in einem weißen Raum. Dabei filmten ihn drei Kameras. Wie bei Bacon gibt er den verletzten, aus seinen Bahnen nicht ausbrechen könnenden Menschen: Formales und Bedeutungsprinzip fallen ins eins. Der Tanz ist in der Wiedergabe auf drei riesigen, über einen länglichen Raum verteilten Leinwänden zu sehen. Der Boden, auf dem Forsythe getanzt hat, ist ausgestellt mit all den Spuren, die der Tänzer hinterlassen hat. Man soll sie in Analogie zum Bacon-Bild sehen. All das war schon sehr überzeugend gedacht und gemacht.
Die Grundlagen von Forsythes bahnbrechendem Stil
William Forsythes choreographischer Stil zeichnet sich dadurch aus, dass er ganz und gar auf dem klassischen Ballett aufbaut und dessen gesamtes Bewegungs- und Figurenrepertoire voraussetzt, all dies aber zu einer vollkommen neuen figurativen und expressiven Sprache steigert. Als nicht minder entscheidendes Prinzip kann zudem gar nicht genug betont werden, wie Forsythe dem Tänzer-Individuum neuen Wert und Raum verschafft hat. Diese beiden Grundprinzipien durchdringen einander in seinem Tanztheater und haben ihm ermöglicht, eine neue Tanzkunst zu entwickeln, wie sie sich zuvor niemand vorstellen konnte. William Forsythe rundete sein fünfundsiebzigstes Lebensjahr gerade mit dem Kyoto Preis ab. Ad multos annos!
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William Forsythe: The icon of modern dance theatre turns 75
William Forsythe revolutionized dance theater 40 years ago in Frankfurt. His intellectual and expressive style merged classical ballet with modern dance. He built on German traditions shaped by artists like Pina Bausch and John Neumeier to create visionary art.
At the Frankfurt Opera, Forsythe introduced radical new approaches. Works such as Artifact and The Questioning of Robert Scott set new standards. Forsythe emphasized individual dancer personalities while maintaining an extraordinary artistic level.
As a multidisciplinary artist, Forsythe saw dance as a visual art form, integrating film, installation, and experimental music. A notable example is his 2006 Louvre performance inspired by Francis Bacon’s unfinished work.
Forsythe’s style is rooted in classical ballet, which he transformed into a new, expressive aesthetic. His work earned him worldwide acclaim, including the Kyoto Prize on his 75th birthday.
Ad multos annos, William Forsythe—a pioneer who redefined the boundaries of dance!