Pro: Ingobert Waltenberger
Stephan Reimertz hat am Mittwoch dem 800 Seiten starken Werk „Die Welt nach Wagner“ von Alex Ross kein gutes Zeugnis ausgestellt.
Ingobert Waltenberger sieht das Werk eher positiv, wenngleich auch er über einige Schwächen nicht hinwegsieht.
Was tut ein renommierter amerikanischer Musikkritiker mit viel Tagesfreizeit? Ein Buch schreiben. Da diese naheliegende Idee gelingen muss, man hat ja schlussendlich einen Ruf zu verteidigen, darf es ein bisserl mehr als weniger sein. Alex Ross hat in Jahren an Recherche unter tatkräftiger Unterstützung von zwei US-Foundations Gebirge an Material angehäuft, um daraus einen Ariadne-Faden durch das Wagnerische Lebens-Labyrinth und die vielen Formen und Ausprägungen des „Wagnerism“ zu destillieren. Allein die bibliographischen Anmerkungen und Quellen der Zitate beanspruchen knapp hundert Seiten. Soviel Fleiß und Ausdauer sind grundsätzlich zu würdigen und verlangen Respekt ab.
Da mich kein „Sachbuch“ bislang zu 100 Prozent überzeugt hat – die Erwartungshaltung eines Lesers und der Anspruch des Autors gehen ohnedies eher selten eine Liebesheirat ein – kann mich auch diese umfangreiche Abhandlung, die mit Wagners Tod in Venedig startet, gemessen am Sujet nicht voll überzeugen. Auf der anderen Seite bewirkt schon der Blickwinkel von jenseits des Atlantiks aus, dass sich Perspektiven öffnen und Themen wie „Wagner unter dem Sternenbanner“ oder „Wagner und die Schwarzen“ Standorte und Themen beschreiben, die für viele Leser neu sein dürften.
Schon ziemlich bald fällt auf, dass Ross sich sehr für Literatur, Philosophie und Malerei, wohl auch Architektur, interessiert. Sein Eintauchen in eine Art von post-wagnerianischer Spurensuche und – damit frei nach Friedrich Nietzsche – nach den Quellen der Moderne bringt hunderte präzise Beschreibungen und damit Einsichten über Verflechtungen von Wagners Werk und Musik in und mit der anglosächsischen und europäischen Literatur und Malerei. Nicht nur die Mann-Brüder, Fontane, Baudelaire und d‘Annunzio, sondern auch Wedekind, George, Eliot, Joyce oder Ingeborg Bachmann werden hingebungsvoll und wortreich in die Überlegungen eingebunden. Diese vorwiegend literarische Dimension der Nach-Wagner-Welt kann wohl als die Stärke des Buchs geortet werden, das der Verlag selbst aber als Standardwerk über die kulturelle und politische Rezeptionsgeschichte anpreist. In Wahrheit wird jedoch nur die eine Seite allseits gut und seriös, wenngleich mit einem Detailreichtum, der den Baum bisweilen vor lauter Wald nicht mehr erkennen lässt, beleuchtet.
Der Autor plagt sich nämlich merklich mit den politischen Konnotationen im Buch, vor allem wenn es darum geht, aus den Fakten Substrat zu ziehen und zu gültigen Schlussfolgerungen zu gelangen. In „Wagner im Kaiserreich“ erfahren wir hauptsächlich, dass Kaiser Wilhelm II. Wagner nicht liebte, ihn zu geräuschvoll wahrnahm und eigentlich Gilbert und Sullivan vorzog. Auch bei den Ausführungen über „Wagner und der Nationalsozialismus“ mit einem sonderbar ausführlichen Einschub „Thomas Mann im Exil“ kleben die Betrachtungen an der Oberfläche und sind wohl nicht immer „state of the art“. Wagner als Wegbereiter des Nationalsozialismus oder die „Hitlerisierung Wagners“, wie Ross das nennt, wäre wohl zu viel der „Ehre“ für den persönlich so widerlich antisemitischen Komponisten. Die Fülle an Zitaten über Wesentliches und sehr oft über Beiwerk umnebelt den Blick auf eine klare Position. Das Faktische bzw. das boulevardeske Blinzeln durchs Schlüsselloch begraben hier oftmals eine stringente Analyse.
Gegen Tratsch und Chichi ist nichts einzuwenden, solange die Relationen stimmen und das Niveau gewahrt bleibt. Sätze wie „Ein Soldat, der in der Schlacht das Augenlicht verloren hatte, wünschte sich, dass er bleiben und für immer Wagner hören konnte“ (S. 647) sind aber unterste Bild-Zeitungs Lade. Alex Ross scheint selber in der Fülle an Zitaten und historischen Ereignissen, die oft nur lose ohne inneren Bezug wie in einem Lexikon aneinandergereiht sind, den roten Faden zu verlieren, was auch auf den Leser zurückfällt. Der flüssige Schreibstil darf aber abseits der Übersetzungsfrage hingegen als durchaus gelungen bezeichnet werden..
Insgesamt möchte ich dem Buch bei allen möglichen Einwänden ein grosso modo positives Zeugnis ausstellen. Exzellente Kapitel wie die „Feuertaufe: Die Moderne von 1900 bis 1914“ oder „Wagner im Film“ entschädigen dann schon weitgehend für Marginalien wie „Der satanische Wagner“ oder die elendiglich langen Auslassungen zu „Willa Cather und der Sängerroman“.
Der interessierte Leser erhält als Dank für sein Durchhaltevermögen ein umfassendes Bild über wirklich alle Hauptströmungen, Auswüchse und Bizarrerien des Wagner-Kults oder des im Buch als solchen apostrophierten „Wagner-Virus“. Wagnerianer oder solche, die sich dazu stilisieren, sind schon eine sonderbare Spezies, denkt sich der primär von der Musik begeisterte Leser am Ende. Nur wo bleibt sie, die Musik? Das werden wir vielleicht in weiteren fünf Jahren wissen, wenn Ross seinem angestammten Metier entsprechend sich vornehmen sollte, sich auch einmal diese nicht unwesentliche Facette Wagners und seiner Ausstrahlung auf nachfolgende Musikergenerationen näher anzuschauen.
Alex Ross
Die Welt nach Wagner
Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020
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