Dem einen ist sie zu oberflächlich, der andere lobt den Fleiß und die Ausdauer des Autors. Nur in einem sind sich unsere Rezensenten einig: Die Musik kommt zu kurz.
Lesen Sie heute und am Freitag, was Stephan Reimertz und Ingobert Waltenberger an dem 800 Seiten starken Werk „Die Welt nach Wagner“ von Alex Ross gefällt – und was nicht.
Kontra: Stephan Reimertz
Alex Ross, Musikkritiker des New Yorker, schreibt achthundert Seiten in forcierter Munterkeit und gespielter Naivität über deutsche Kultur.
»Wagners Wirkung auf die Musik war gewaltig, doch sie war nicht größer als die von Monteverdi, Bach oder Beethoven«, schreibt Ross. »Aber seine Wirkung auf andere Kunstformen war beispiellos und ist seither nicht wieder erreicht worden, auch nicht im Bereich der populären Kunst.« Teilweise ganz witzig glossiert Alex Ross die Geschichte der Wagner-Rezeption und der Aufführungspraxis von des Komponisten letzten Jahren bis heute. Seine Kenntnis des Materials ist umfassend und beeindruckt. Der Gestus des Staunenden und die permanente Affirmation dürfte den deutschen Leser indes nerven; für uns ist alles nicht so neu und erstaunlich wie für Amerikaner. Ross trägt seinen munteren Gedankenstrom als eine Art unendlicher Melodie vor. Es wäre seltsam, wenn sich dabei nicht auch überraschende Analogien ergeben würden. So überzeugt es durchaus, wenn er Wagners Evokation der neuen und besonderen Rezeptionssituation im Bayreuther Festspielhaus mit Schopenhauers Beschreibung von Hypnose und Hellseherei in Beziehung setzt. Besonders liebt Ross Anekdoten wie jene, nach der Wagner selbst bei den Blumenmädchen im Parsifal Bravo! rief und ausgezischt wurde. Als Anekdotenschatz für die Bayreuther Pause ist das neue Buch eine unbezahlbare Fundgrube; die meisten Geschichtchen dürften Wagnerianer indes schon gehört haben.
Ein Feuerwerk von Kurzschlüssen
Den englischen Originaltitel Wagnerism mit »Die Welt nach Wagner« zu übersetzen hat einen Vorteil. Immerhin könnte man so auch: »Die Welt, wie Wagner sie sah« verstehen. The World According to Wagner – etwas von Garp hat dies z. T. unfreiwillig komische Buch durchaus. Gedichte sind in grauenhafter Übersetzung wiedergegeben. An einer Stelle tadelt der Autor, ein Gedicht von Verlaine habe ein »etwas zu theatralisches Einatmen«. Wenn er aber Kurschlüsse wie: »Wagner und Schopenhauer verströmen Krankheit und Dekadenz, Nietzsche steht für Kraft und Gesundheit« notiert, gibt Ross, der jederzeit die Distanz zu seinem Material wahrt, hier freilich lediglich Nietzsches Haltung zur Zeit von Menschliches, Allzumenschliches wieder. Die ständige Paraphrasierung wirkt wie ein Auftritt der Kabarettistin Lisa Eckhart; achthundert Seiten freilich sind für ein Kabarettprogramm recht ausschweifend. Das Woody-Allen-artige Bilder-, Gedanken- und Assoziationenprasseln ergänzen 740 z. T. farbigen Abbildungs-Schmankerln.
Oper, gezappt und geschnetzelt
Alex Ross, Jahrgang 1968, ist ein Zapper, und man kann es seiner Kunstfertigkeit zuschreiben, wie er aus diesem: nicht Gedanken-, aber Faktenreichtum eine Non-Stop-Arie zaubert, die sich anhört wie das Knattern eines endlosen Bandes von Knallfröschen zu Silvester. Mich empört die Mac-Donald’s-Logik diese Machwerks, das banausenhafte Abhaken von allem und jedem; schriebe ich nicht die Rezension, hätte ich das Buch nach wenigen Seiten in den Kamin geschmissen. Als alter Wagnerianer habe ich eine Menge Schrott lesen müssen, namentlich aus dem Dritten Reich und von Beginn der achtziger Jahre; dieses Buch ist allerdings eines der überflüssigsten.
Musikgeschichte ohne Musik
Wie in vielen Wagner-Büchern kommt auch hier eine Kleinigkeit ein wenig kurz: die Musik. Die Namen Henze, Rihm und Reimann sucht man ebenso vergebens wie eine umfassende Diskussion des musikdramatischen Erbes. So wie ein unausgebildeter Sänger nicht in der Oper auftreten kann, so sollte auch der Verfasser eines solchen Buches musikalisch ausgebildet sein. Alex Ross hat Musik, gar Komposition studiert, aber es hat ihm und damit seinen Lesern wenig genützt. Was er hier abliefert, ist ein Musikbuch als Big Mac. Ross‘ Wagnerbuch ist oberflächlich und pseudointellektuell bis hin zur Selbstparodie: »Für Herz ist der Beginn von Tristan eine Kette von Fragmenten, jedes nur lose mit dem folgenden verbunden’ – eine Beschreibung, die ebenso auf Werke von Baudelaire oder Mallarmé zutreffen könne. / Der ganze Tristan ist eine Hymne an das Vergessen. Die politischen Realitäten im Umkreis der irischen Prinzessin und des bretonisch-kornischen Ritter lösen sich auf wie eine Fata Morgana.«
Alles was Sie über Wagner nicht wissen wollen
Wenn er erfährt, wie der späte Edward VII. seinen Terminkalender nach Wagner-Aufführungen einrichtete, der erste englische Wagner-Übersetzer Papierhändler war oder in vier amerikanischen Städten Wagner-Statuen stehen und gelegentlich gefordert wird, diese zu beseitigen, dürfte es dem Wagnerianer lediglich ein »Ach wirklich?« entlocken. Immerhin ist es ganz witzig zu hören, wie in den 1870er Jahren Wagner in England auf Italienisch gegeben wurde; wie alle Opern. In Ross‘ Machwerk wird permanent Wichtiges und Unwichtiges unterschiedslos vermengt wie in einer Waschmaschine im Schleudergang, und der Zuschauer kann sich bei der Betrachtung allenfalls ein Schleudertrauma einhandeln. Gibt Ross die Handlung des Tristan wieder, schaut das aus wie ein Bilderbogen aus Mickey Maus.
Das launige Geplapper als »Rezeptionsgeschichte« zu titulieren wäre kabarettreif. Das klingt dann so: »Andererseits sind Lobgesänge auf das Gute in Wagners Opern nicht immer überzeugend. Siegfrieds Trauermarsch ist beeindruckender als die Gestalt des Siegfried selbst. Parsifals weltheilender Schlussmonolog klingt ein wenig hohl.« Bei Wotan! Hätte Wagner die Musikkritiken im New Yorker gelesen, hätte er sicher etwas besseres komponiert!. Der Autor spult Jahrhunderte von Kulturgeschichte, wozu ein Deutscher ein ganzes Leben braucht, locker im Zeitraffer ab. Frappierend an dem Ganzen ist die Naivität und Munterkeit, in der der Autor über seine Gemeinplätze joggt. Die Dummdreistigkeit, mit der Alex Ross sein Opus in Deutschland feilhält, ist nachgerade entwaffnend. Ein solcher Mann, der es wagt, seine Plastik-Eulen in Athen anzubieten, ist für Karl Kraus »der Fremde, der auf dem Bahnsteig ankommt und sich erbötig macht, dem Fremdenführer die Schönheiten der Stadt zu zeigen«. Die meisten Europäer dürften kaum auf die Idee kommen, ein fast tausendseitiges Buch über die Peking-Oper zu verfassen, es ins Mandarin übersetzen zu lassen und anschließend kokett den Platz des Himmlischen Friedens auf und ab zu laufen und Beifall zu erwarten.
Alex Ross
Die Welt nach Wagner
Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020
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