Das Motto der neuen Saison 2022/2023, der Opéra Royal de Wallonie-Liège lautet: „De différents regards“, „Von anderen Blicken, Ansichten oder Einsichten“ könnte es frei übersetzt heißen. Das klingt gut, sagt viel aus. Und ist beim RBB und bei ARTE auch zu hören und zu sehen.
Von Barbara Röder.
Die erste Premiere am traditionsträchtigen Musentempel in Lüttich versetzt uns mit Léo Delibes orientalisch anmutender Oper „Lakmé“ zurück in die Belle Époque. In jenes Paris, in welchem nicht nur die Oberschicht, sondern ganz Frankreich elektrisiert war von Geschichten, die in Ozeanien, im fernen Asien oder geheimnisvollen Ägypten spielten. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg, der von 1870-1871 wütete, war Neuanfang, Aufbruch und das Träumen in andere Welten Kulturen angesagt. Die Schriften von Bestsellerautor, Oriententhusiast und Weltreisendem Pierre Loti waren eminent en vogue. Sie fachten das Feuer, Fernes zu erkunden an. Als der Komponist Léo Delibes -seine Ballette „Coppélia“ (1870) und „Silvia“ (1876) gehören heute zum weltweit gängigen Ballettrepertoire – Lotis Roman „Rarahu ou Le Mariage de Loti“ auf einer Zugfahrt las, war er verzaubert. Das musste Delibes vertonen!
Die zarte Liebesgeschichte zwischen der jungen Hindupriesterin Lakmé und dem englischen Offizier Gérald passte zum Zeitgeist. 1883 feierte die traurig und tödlich für die Hauptfigur endende Oper „Lakmé“ an der Opéra-Comique Premiere. Als Dauerbrenner eroberte sie im Fin de Siècle viele europäische Spielpläne. Die Leidenschaft für Exotik und Orientalisches floss ja schon seit dem Barock in alle Kunstrichtungen, die bildenden wie auch die musikpoetischen ein. In der Belle Époque zeugen als leuchtende Paradigmen „L’Africaine von Meyerbeer, „Madame Butterfly“ von Puccini, Bizets „Perlenfischer“ oder auch die Tahiti-Gemälde des Expressionisten Gauguin von der Sehnsucht nach ferne Paradiese.
An der Opéra Liège katapultiert Ausstatter Paolo Vitale, ganz dem Libretto folgend, das Geschehen von „Lakmé“ in ein orientalisches, farbintensives Zuckerguss-Bilderbuch-Indien. Angeregt durch malerisch vollsüffige Beschreibungen der Weltausstellungen in Paris 1867 und 1878, Léo Delibes hat sie allesamt erlebt, gleicht das Setting von Vitale einem indischen Pavillon auf dem Ausstellungsgelände in Paris. So haben sich die Franzosen Indien vorgestellt: Üppiges Blumenmeer rankt und schlängelt sich um Felsen, Brunnen plätschern und alles scheint nach orientalischen Gewürzen zu duften. Die drei Farben Safran, Weiß und Grün der indischen Flagge, inklusive deren Bedeutung, ordnet Vitale den drei Akten der Oper zu. Diese Farben stehen symbolisch für Hinduismus, Opfer und Mut (Orange), Wahrheit und Frieden (Weiß) und Edelmut, Glauben und Wachstum (Grün). Sanfte Verweise und einige Details der Inszenierung von Regisseur Davide Garattini Raimondi bekunden seine aktualisierte Fassung der Oper und verweisen auf eine moderate Kolonialkritik am damaligen British-Indien.
Unsere Blicke fallen auf den alten, weisen Gandhi, der lauscht, in seinem roten Notizbuch blättert oder am Spinnrad dreht. Ist es das Rad der Zeit, das schon beim geschlossenen Vorhang am vorderen Rand der Bühne auffällt? Gandhis Person erscheint gedoppelt. Als Knabe wird er während der Oper ins Geschehen geworfen. Dort erlebt der Junge hautnah die Gewalt, den Hass des indischen Volkes gegen die britischen Besatzer. Ihr Heimatland wurde unterjocht und Gandhi predigte infolge den gewaltlosen Widerstand. Gandhis Zitate zieren ebenso den Vorhang wie weiße, gewebte Leinentücher, die in die Szenen herabhängen. Regisseur Raimondi zeigt zudem hinter einer heruntergelassenen englischen Gazevorhang-Flagge die Peinigung und Brutalität der Kolonialherren an den Indern. Hier häufen sich zu viele plakative Inputs, welche die Story einer Liebe zwischen zweier Kulturen erheblich schwächt. Die englischen Ladys werden von Raimonde als Karikatur gezeichnet. Das ist aber so im Libretto angelegt. Sie machen Picknick, haben Tee Time im indischen Dschungel vor dem Heiligtum der Brahmanen. Das Bild des ignoranten Europäers, der mit schnellem Parlando gewitztem Singsang-Quintett überheblich und wohlgesittet in biederen Fin de siècle Roben „Wissen, wie man liebt“, wirkt extrem überzeichnet.
Kurz darauf begegnen sich vor dem in Safran getauchten, weihevollen Palmenpalast mit Hinduheiligtum Ganesha, Lakmé und Gérald zum ersten Mal. Unheilvoll ist das Leben dieser reinen Schönheit. Lakmé verkörpert die Zukunft des Glaubens für das indische Volk. Nilakantha, ihr Vater bürdet diese Last auf ihren Schultern. Auf dem orientalischen Markt lässt er Lakmé die berühmte „Glöckchenarie“ singen. Nilakantha führt sie vor, wie Spalanzani dies mit seiner Tochter Olympia in Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“(1881) getan hat. Die Erzählung „Der Sandmann“ von E. T. A. Hoffmann diente Delibes schon als Grundlage für das Ballett „Coppélia“. Die Ähnlichkeit der Figur Lakmé und Olympia, die als Töchter von Vätern für ihre Zwecke benutzt werden, ist nicht zu übersehen. Beide Figuren singen halsbrecherische Bravourarien. Beides sind Geschöpfe von Fantasten, die für ihren Glauben (Nilakantha) oder den Ruhm (Spalanzani) opfern. Im dritten Bild der Oper pflegt Lakmé den von ihren Vater auf dem Markt niedergestochenen Gérald. Voller Wut, Zorn und im festen Glauben, dass Gérald seine Tochter Lakmé und die Heiligtümer der Inder entweiht hat, griff Nilakantha zum Messer. Die grüne, mit allerhand Beutetier ausstaffierte Lodge ist ein Wohlfühloase-Clubhaus für die britischen Kolonialisten. Ein grünes Krokodil, der Kopf des Ganesha und das Porträt von Queen Victoria zieren dessen Wände.
Gesungen wird in Liège durchgehend auf schönstem, hohen Niveau. Hafenkaskaden umschlingen den anfangs etwas zögerlich, fast unschuldig anmutenden Koloratursopran von Jodie Davos. Sie verströmt als Lakmé glaubhaftes, eindringlich elegantes Profil. Hinreisend, glasklar und voller Liebreiz tönt die berühmte „Blumenarie“, die sie mit Marion Lebègue (Mallika) im trautem Einklang zwitschert. Ihre fantastische anmutende „Glöckchenarie hat etwas Magisches, innerlich Zerbrechliches. Das verleiht der Figur Lakmé Grazie. Philippe Talbot gibt einen passablen, tenoral nicht immer im perfekten Wohllaut tönenden Gérald. Der rachsüchtige Nilakantha wird mit kerniger Substanz von Lionel Lhote interpretiert. Würdevoll und erhaben ist der Bariton von Pierre Doyen als Frédéric. Er ist die Entdeckung des Abends. Pierre Romainville (Hadji) ist der aufmerksame, gut intonierender Diener Lakmés. Die plausible Choreografie der Tempeltänzerinnen stammt von Barbara Palumbo. Die üppig bunte und stimmige Kleiderpacht entwarf Gilda Masi.
Vollsüffigen Sound verwehrt uns Dirigent Frédéric Chaslin seiner musikalisch plastisch geformten Ouvertüre. Es kling knallig, sehr direkt und fast brutal. Realismus und Impressionist zeichnen dieses Klangbild aus. Zola und Manet immanenter Zeitgeist mischt sich in die damals als exotisch tönende Partitur. Chaslin spürt andere dunklere und klare Klänge ohne Wattebausch und Zuckerguss in der Partitur auf. Das bekommt der Oper „Lakmé“ sehr gut und ist wohl bedacht. Ein präzise intonierendes Orchester und ein biegsam tönender Chor der Opéra Royal de Wallonie-Liège machen den Abend zum interessanten Opernerlebnis.
Wer die Oper für sich entdecken mag, kann die Berliner „Lakmé“ Aufnahme, die live aus der Berliner Philharmonie auf RBB-Kultur gesendet wurde, hier nachhören.
Arte Opera überträgt am 6.10. 2022 live eine Neuinszenierung der Oper „Lakmé“ zum Auftakt der ARTE Concert-Konzerte und im Replay, aus der Opéra Comique, Paris hier .
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.
Pingback: Fesselnde „Kát‘a Kabanová“ eröffnet Saison in Liège |