Von Ingobert Waltenberger.
Der György war ein gar liebliches Männchen aus dem All mit großen trichterförmigen Lauschern. Er liebte Mondgras und Neptunnektar. Auf seiner gemütlichen Raumstation hatte er alles, was er zum Leben brauchte. Natürlich pflegte er so wie wir Erdlinge Hobbys und Leidenschaften. Da es noch kein Netflix gab, schaute er auf diese sonderbare Erde hinab und brannte vor Neugier darauf, was sich dort so abspielte und tat. Also Antennen ausgefahren und aufgepasst.
Unglaubliches sah und vernahm er: Meere und Land, sichtbare und unsichtbare Wahrheiten, Algorithmen, Chaos und Ordnung. Weite Wälder, felsige Berge und Lebewesen aller Art. Da gab es sogar wuselnde Menschen mit all ihren Wissenschaften und ihrer Kunst. Na ja, gut. Vieles davon kannte er ja auch schon vom Unterricht, den er mit all seinen schnatternden Geschwistern spielerisch bestand. Die beste und verblüffendste Eigenschaft der Bewohner des blauen Planeten war es jedoch, Töne zu so etwas wie glitzernden Klangketten zu formen. Lustig anzuhören. Besonders faszinierten ihn Polyrhythmen aller Art. Aber auch die Musik der Aka-Pygmäen und Conlon Nancarrows Studien für Klavierspieler wollte er sich näher ansehen. Dazu notierte er Eindrücke von karibischen, polynesischen und transsilvanischen Volksmelodien. Einmal hörte er in seiner Raum- Zeitreise sogar einen Verbunko, der von Orchestern bei der Rekrutierung der österreich-ungarischen Armee gespielt wurde.
Des Abends improvisierte er zur Entspannung auf seinem kleinen astronomischen Sphäroiden-Klavier über all das, was er erfahren hatte und was sich mit dem Blick auf all die vorbeizischenden Asteroiden, Meteore, Sternschnuppen und was da noch alles im dämmrigen Universumslicht herumflitzte, mischte. Daraus wurde eine sternenblitzende, jazzartig wilde Improvisation, die alle, die um ihn waren, begeisterte.
Étuden wollte er sie nennen, seine achtzehn Eingebungen, die er in siebzehn Lichtjahren notierte. Heft eins, Heft zwei und Heft drei. György schickte seine mit poetischen Namen wie ,Arc-en-ciel‘, ,Automne à Varsovie‘ oder ,En Suspens‘ versehenen musikalischen Huldigungen mit Express-Post direkt an Cathy Krier in Luxemburg. Sogar im Weltraum hatte sich herumgesprochen, dass sie die beste Pianistin sei, um dies genau so zu spielen, wie er sich das ausgedacht hatte. Geschont hat er weder sich noch Cathy. Viel war zu üben, um die vielen vielen Noten und das polyflotte Tempo, die Tonalitäten und Modalitäten zu beherrschen. Jetzt hat sie ihm eine Silberscheibe zurückgeschickt. Nicht mit seinem „Space Odyssey“ Hit, aber mit den wundersamen Klavierstücken. Und wie da György staunte, dass dank der tollen Cathy Krier aus seiner Musik noch viel mehr geworden war. Welch poetische Anziehung, welch verführerische Magie, welche sonnenstrahlende Atmosphäre nun von den Stücken ausging.
György freute sich so sehr, dass er viele der Silberscheiben auf die Erde hinabregnen ließ. Musikbegeisterte wissen, wo sie sie aufsammeln müssen. Jede und jeder darf sie anhören, von ihrer Schönheit schwärmen und sich auf eine akustische Reise ins All begeben.
György Ligeti
Études pour Piano (1-18)
Cathy Krier
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