Jean d’Amériques Debütroman „Zerrissene Sonne“ , erschienen bei Litradukt, ist ein literarischer Kraftakt. Hart und poetisch zugleich, spiegelt er das gewaltvolle Leben in Haiti, ein Land, das in Armut und Chaos versinkt, beherrscht von brutalen Gangs. Ohne die sprachliche Raffinesse von Jean d’Amérique wäre dieser Teppich aus Gewalt und Hoffnungslosigkeit kaum zu ertragen. Von Barbara Hoppe.
Für Haiti lief es von Anfang an nicht gut. Denn als es nach erbitterten Kämpfen 1804 endlich seine Kolonialmacht Frankreich abschütteln konnte, ließ dieses den Karibikstaat nicht einfach ziehen. Die Unabhängigkeit gewährten die Franzosen nur im Gegenzug zu hohen Entschädigungszahlungen. In der Folge verlor der Karibikstaat alles, was ihn einst ausmachte: eine prosperierende Wirtschaft und florierende Handelsstrukturen. Über zwei Jahrhunderte entwickelte sich Haiti zu dem, was es heute ist: Ein Land im Chaos, beherrscht von bewaffneten Gangs und korrupten Politikern, in dem täglich Menschen entführt und ermordet werden und die Bevölkerung in bitterer Armut lebt. Es ist kaum vorstellbar, dass dieses jahrhundertealte kollektive Trauma je aufgelöst werden kann.
Tête Fêlée: Ein Leben zwischen Dunkelheit und Hoffnung
Hier lebt die 12-jährige Tête Fêlée, Tochter von Fleur d’Orange und einem Vater, der nicht ihr leiblicher ist, dafür aber der beste Söldner des größten Schurken in Port-au-Prince. Ein „Wirrkopf“, wie ihr Name glauben machen soll, ist das Mädchen allerdings mitnichten. Wenngleich nicht alt an Jahren, hat sie die umgebende Gewalt alt gemacht. Die Kinderseele ist zerrissen wie die Sonne im Romantitel, nur selten leuchtet ein schmaler Streifen Licht durch die Dunkelheit ihres Daseins. „In Haiti“, so erklärt Jean d’Amérique bei seiner Lesung im Berliner Brecht-Museum, „ist die Sonne ein Symbol für Hoffnung und Leben.“ Für Tête Fêlée heißt dieser Lichtstreifen Silence. Als Tochter des Lehrers ist sie Tête Fêlées Klassenkameradin, aber im Gegensatz zu ihr lebt das Mädchen in privilegierten Verhältnissen. Und doch sind beider Schicksale miteinander verknüpft. Die Liebe, die die Mädchen füreinander empfinden, droht im Zyklus der Gewalt zu zerbrechen. Die warnenden Worte von Tête Fêlées Vater schweben mahnend durch den Roman: „Du wirst allein sein in der großen Nacht…“.
Eine Sprache wie Musik: Rhythmisch, präzise, eindringlich
Wie ein Trommelfeuer zieht sich die physische Gewalt durch die Seiten und hinterlässt gebrochene Seelen. Jean d’Amérique gönnt seinen Lesern keine Verschnaufpause. Trost spendet dabei nur die Sprache. Denn Jean d’Amérique ist nicht nur Schriftsteller. Der Rapper dichtet auch und so ist für ihn jedes Wort eine Note, jede Silbe ein Klang. Sein Text ist rhythmisch, nuanciert, rau und hart, um im nächsten Moment in Zärtlichkeit und Poesie überzugehen, wenn Tête Fêlée ihrer Geliebten schreibt. An dieser Stelle muss die Leistung der Übersetzerin Rike Bolte gewürdigt werden, der es gelingt, immer den richtigen Ton zu treffen. Tête Fêlée ist die Stimme einer zerrütteten Stadt, eines geschundenen Landes, eine Anklage und Ode an die Hoffnung zugleich.
Jean d’Amérique – Poet, Dramatiker, Stimme Haitis
Jean d’Amérique, Jahrgang 1994, gilt als eine der vielversprechendsten literarischen Stimmen Haitis. Er hat sich als Lyriker und Dramatiker einen Namen gemacht, wurde mehrfach international ausgezeichnet und lebt seit 2019 in Paris. Zweimal gelang es ihm seitdem, ein Poesiefestival in seiner Heimat durchzuführen. Ein Wunder, möchte man glauben. Und doch spiegelt sein Engagement auch die Kraft der Literatur wider, sich gegen Gewalt zu stemmen.
Ein literarisches Erlebnis, das nachhallt
„Zerrissene Sonne“ ist kein Buch, das man einfach liest – es ist ein Buch, das man spürt. Es fordert, fasziniert und erschüttert. Jean d’Amérique schenkt uns mit diesem Roman das Porträt eines Landes aus Poesie, Musik und Gewalt. Ein außergewöhnliches literarisches Erlebnis, das lange nachhallt.
Jean d’Amérique
Zerrissene Sonne
Litradukt, Trier 2024
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Jean d’Amérique: Poetry and pain in ‘Torn Sun’
Jean d’Amérique’s novel “Zerrissene Sonne” is a powerful work that portrays Haiti’s contradictions: a country marked by violence, poverty, and fragile hope. At its center is 12-year-old Tête Fêlée, searching for light amidst chaos and brutality. Her name means “crackpot,” but she is clever, brave, and wise beyond her years.
The title, “Zerrissene Sonne”, symbolizes both the protagonist’s shattered life and the hope that shines like a narrow streak of light through the darkness. Tête Fêlée finds this hope in her love for Silence, a classmate. Yet, the violence surrounding them threatens to destroy their bond.
Jean d’Amérique’s language is powerful, rhythmic, and musically precise. Every word is deliberate, every sentence resonates. His works combine the poetry of Haitian music with the country’s challenges.Born in 1994, Jean d’Amérique is an outstanding literary voice from Haiti and has lived in Paris since 2019. “Zerrissene Sonne” is a novel that deeply moves and lingers in the reader’s mind.
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