Die Frankfurter Schule gehörte zur ersten Generation marxistischer Intelligenzija, die keine Verbindung zu einer sozialistischen oder kommunistischen Partei mehr unterhielt. In seiner Monographie Adornos Erben präsentiert Jörg Später eine umfassende Forschungs- und Dokumentationsarbeit über das einflussreiche Milieu und seine Ausstrahlung als spannend erzählte Geistes- und Sozialgeschichte. Doch wahrt der Autor die gebotene Distanz des Historikers? Von Stephan Reimertz.
Jörg Späters neues Buch Adornos Erben ist eine auffallend feinsinnige und umsichtige Studie, die nicht nur die sogenannte Frankfurter Schule, sondern auch die intellektuelle Landschaft Westdeutschlands von den Sechziger bis zu Beginn der Neunziger Jahre untersucht. Der Autor unternimmt den Versuch, die komplexe Geschichte der Kritischen Theorie nach Theodor W.-Adornos Tod und dem Rückzug Max Horkheimers und Friedrich Pollocks lebendig und anschaulich zusammenzufassen. Dabei schnorchelt er neugierig durch die theoretischen Untiefen dieser vielfältigen philosophischen Schule mit ihren Nebenflüssen. Für den ahnungslosen Leser wäre freilich der eine oder andere Wink von Nutzen gewesen, von welchem Gedanken Hegels oder Marx’ gerade die Rede ist.
Der Epochenumbruch geschah, als eine Generation von Pimpfen und Unteroffizieren auf die alten Emigranten traf. Adorno, aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrt, war ein sensibles künstlerisch-philosophisches Naturell. Ein Bild des Alten Europas hatte er im Hinterkopf, die zwanziger Jahre hatte er als junger Mann miterlebt, und er war mit deren Protagonisten wie Lotte Lenya und Siegfried Kracauer befreundet. Jetzt fiel der Blick des in seine Heimatstadt Zurückgekehrten auf ein ödes Nachkriegsdeutschland. Er nannte es »Verwaltete Welt«. Und Ende der sechziger Jahre schaute er plötzlich in die Augen neuer Barbaren. »Die Gefahr des Umschlags der Studentenbewegung in Faschismus nehme ich viel schwerer als Du«, schrieb der erschrockene Gelehrte an Herbert Marcuse. »Du müßtest nur einmal in die manisch erstarrten Augen derjenigen sehen, die womöglich unter Berufung auf uns selbst, ihre Wut gegen uns kehren.«
Exit Schweiz
Das sollte sein Schlusswort sein. Wie Stefan George im Jahre 1933 reiste Adorno in die Schweiz, um dort zu sterben. Und wie George schrieb er sich einen Anteil an der neuen Barbarei selbst zu. Das war der Knackpunkt. Man könnte sagen: Sein Herz brach. Doch wie Georges Werk und Wirken sich im 20. Juli 1944 verdichtete, so Adornos ästhetische Philosophie und kritische Musiklehre in der Bildung einer neuen Elite jenseits der Corporate Identity einer gleichgeschalteten Universität mit ihren Netzwerken, Grüppchen und Cliquen.
Eine der Stärken des neuen Buches liegt in der detaillierten Darstellung von zwölf ausgewählten Mitarbeitern Adornos und unzähligen Weggefährten, Zeitgenossen, Nachfolgern und Widersachern. Jörg Später malt ein abgestuftes Bild dieser Persönlichkeiten und ihrer Welt, die Horkheimers und Adornos Erbe auf vielfältige Weise weiterentwickelt haben. Ob Jürgen Habermas mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns, Alfred Schmidt mit seiner Auseinandersetzung mit Marx oder Oskar Negt mit Studien zur Arbeiterklasse: Jeder der Protagonisten wird seriös porträtiert und in den größeren Zusammenhang der Frankfurter Schule und ihrer Zeit gestellt.
Gefühl für Atmosphäre
Mit Empfinden auch für oft unausgesprochene, eher atmosphärische Veränderungen ist es Später gelungen, die Kontinuitäten und Brüche innerhalb der Frankfurter Schule zu identifizieren und sichtbar zu machen. Er verdeutlicht, wie die unterschiedlichen Schüler und Nachgänger Adornos und Horkheimers trotz gemeinsamer Ausgangspositionen ganz unterschiedliche Wege eingeschlagen und so zu einer Auswucherung der Kritischen Theorie über die ganze Bundesrepublik beigetragen haben. Zunächst schlugen die Ableger, wie der erstaunte Leser erfährt, außerhalb der Grenzen des ehemaligen Römischen Reiches Wurzeln, vor allem an weniger bekannten Orten wie Lüneburg und Hannover. Möglicherweise waren die vergessenen Bewohner dieser Ortschaften schlicht überrumpelt.
Demokratierhetorik mitten im Chaos
Jörg Späters umfangreiche Monographie Adornos Erben knüpft an Beschreibungen der Frankfurter Szene der zwanziger Jahren wie Intellektuellendämmerung von Wolfgang Schivelbusch oder Darstellungen der Frankfurter Schule wie jene von Rolf Wiggershaus an, geht jedoch in Umfang und Tiefe darüber hinaus. Tatsächlich würde seine bunte und vielfältige group novel eine dankbare Miniserie für das Fernsehen abgeben. Man denke nur an die ZDF-Serie Zarah – Wilde Jahre mit einer flotten Journalistin im Feminismus der frühen siebziger Jahre im Mittelpunkt, wo es durchaus gelungen ist, geistesgeschichtliche Hintergründe heutigen Zuschauern in einer heiteren Filmhandlung verständlich zu machen.
Späters ohnehin schon umfangreiches Buch lässt die Umrisse der Stadt nur im Hintergrund aufleuchten. Im offiziellen Reklame-Video des Suhrkamp-Verlags zeigt sich der sympathische Geisteswissenschaftler Jörg Später im Habitus der Schlabberpullovergeneration, so als sei er tatsächlich nicht 1966 geboren, sondern 1946. Er ist also ein echter Generationenspringer, so wie es ja auch Sprösslinge der Generation X gibt, deren höchstes Ideal kleinstädtische Reputierlichkeit ist, als lebten sie in den 1950er Jahren.
Ludwig von Friedeburg und Jürgen Habermas
Zu den Mitarbeitern Adornos, deren Pfaden Jörg Später ausführlicher folgt, gehört Ludwig von Friedeburg. Der Freiherr war eine bemerkenswerte Persönlichkeit, deren Lebensweg sich über mehrere, nur auf den ersten Blick unvereinbare Bereiche erstreckte: vom Militär über die Sozialforschung bis hin zur Politik. Friedeburg entstammte einer Soldatenfamilie und trat bereits in jungen Jahren in die Wehrmacht ein. Mit gerade einmal zwanzig Jahren wurde er einer der jüngsten U-Boot-Kommandanten der deutschen Kriegsmarine. Diese Erfahrung prägte ihn tief und war ein Kontrast zu seinem späteren Wirken. Friedeburg trat der SPD bei und engagierte sich in der Bildungspolitik. Als Kultusminister in Hessen setzte er sich für eine Reform des Schulsystems ein und stieß dabei auf erheblichen Widerstand. Er war langjähriger Direktor des Instituts für Sozialforschung und prägte dessen Profil maßgeblich. Ludwig von Friedeburg war ein komplexer Charakter, dessen Leben von einem tiefen Bruch geprägt war. Seine Erfahrungen als U-Boot-Kommandant und seine spätere Tätigkeit als Sozialforscher und Politiker werfen ein faszinierendes Licht auf die Möglichkeiten der persönlichen Veränderung und die Vielschichtigkeit des menschlichen Daseins. Später stellt die Bildungsreform der siebziger Jahre m. E. leicht idealisiert dar und vernachlässigt die Härten, die sich im Unterricht für Schüler ergeben, wenn sie einen stark ideologisch geprägten Lehrer vor sich hatten. Hier schreibt Später eher wie ein Propagandist.
Doch der Autor besticht immer wieder mit der der Fähigkeit, das Momentum philosophischer Werke zum Zeitpunkt ihres Erscheinens auf den Punkt zu bringen. So sagt er über Jürgen Habermas’ 1981 veröffentlichte Theorie des kommunikativen Handelns: »Der die Gesellschaft beobachtende Philosoph hatte die technokratischen Eliten und die Ökologiebewegung vor Augen und sah seine Aufgabe darin, die Vernunftpotenziale der modernen Aufklärung vor den Priestern des Sachzwangs und den Aussteigern aus komplexen, arbeitsteiligen Lebensformen zu schützen.« Mehr als eine politische Ideologie oder eine akademische Schule war es ein bestimmter Habitus, ein spezifischer Tonfall, an dem man sich gegenseitig erkannte, ein Stallgeruch, den man sofort gewahrte. Wer nicht dazugehörte, war draußen, war »Bourgeois«, »Reaktionär« oder »Faschist«. So kann man sich tatsächlich fragen, ob die Erben der Frankfurter Schuler die Gesellschaft nicht eher soziologifiziert als sozialisiert haben. Sie schufen keine Gesellschaft ohne Klassen, sondern ohne Klasse.
Hl. Benjamin, erlöse uns!
Diejenigen Leser, die den Verdacht hatten, es könnte sich bei Walter Benjamin um einen stark überschätzten Autor und bei seiner euphorischen Rezeption in Deutschland vor allem um ein Phänomen der »Wiederjudmachung« (Salcia Landmann: Der jüdische Witz) handeln, erhalten von Später einigen Nährstoff. Über Benjamin-Herausgeber Rolf Tiedemann weiß er zu berichten: »Seine Arbeit an Benjamins Werk interpretierte er nun als Wiedergutmachungspraxis ‚nach Auschwitz’, als ein ‚Eingedenken’ jenseits von Vergessen und Historisieren.« Als Tiedemann am offenen Herzen operiert werden musste, interpretierte er dies als »Benjamins Krankheit«, was erschreckend dartut, wie rettungslos sich Intellektuelle aus der Kriegskindergeneration mit dem von den Nazis verfolgten und auf der Flucht durch Selbstmord geendeten Denker überidentifizieren. Den unbefangenen Leser wird bei der Lektüre dieser beklommenen Prosa ein tief vitales Unbehagen ergreifen. Jörg Später weiß auch zu berichten, wie sich der Suhrkamp Verlag an diesem Autor bereicherte, der mit Büchern wie dem Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit oder dem Ursprung des Deutschen Trauerspiels zwar unsinnige, allein inzwischen nachgerade populäre Schriften verfasst hat, die viel Verwirrung stiften mussten und viel Geld einbrachten. Das Phänomen Benjamin ist ein außerliterarisches und außerwissenschaftliches, ein kollektivpsychologisches Kompensationsphänomen.
Zu den faszinierenden Menschen, die wir durch Jörg Späters verdienstvolle Monographie neu oder wieder neu kennenlernen, gehört der einfallsreiche und rhetorisch hochbegabte ostpreußische Marxist Oskar Negt. Neben dem Filmproduzenten Alexander Kluge räumt Später Oskar Negt am meisten Raum in seinem spannenden und abwechslungsreichen Buch ein. Und so soll am Ende dieser kleinen Buchvorstellung eine Bemerkung Späters über den Professor stehen, die als eine der wenigen Stellen dieses Werkes auf die Möglichkeit einer von Arbeit befreiten Menschheit hinweist: »Negt bezeichnete es als Skandal, dass trotz Millionen von Arbeitslosen das Einkommen an Arbeit gekoppelt und die Lebenszeit von gesellschaftlich überflüssiger Arbeit überfrachtet sei.«
Jörg Später
Adornos Erben
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024
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Jörg Später: ‘Adorno’s heirs’. The rattletrap of a republic
Jörg Später’s Adornos Erben explores the Frankfurt School and West Germany’s intellectual scene from the 1960s to the 1990s, tracing the evolution of Critical Theory after Adorno’s death.
Returning from exile, Adorno saw a postwar Germany he called a “managed world.” Später likens him to Stefan George, who withdrew to Switzerland in 1933. The book portrays twelve key figures, including Jürgen Habermas and Oskar Negt. Ludwig von Friedeburg’s transformation from U-boat commander to social researcher and education reformer is particularly compelling.
Später examines how Critical Theory spread beyond Germany and questions the cult of Walter Benjamin. He presents the Frankfurt School as a milieu with a rigid intellectual ethos and asks: Did it socialize society or merely categorize it?
His meticulous analysis, combined with a lively narrative, makes Adornos Erben a captivating study of a defining school of thought.