Rezension von Corinna von List.
Der Verfasser dieses Romans war nicht nur Schriftsteller, sondern auch ein hoch angesehener Rechtsanwalt im Berlin der Weimarer Republik, der aus einem jüdisch-orthodoxen Elternhaus stammte. Durch seine Herkunft hatte er einen geschulten Blick auf die ostjüdische Lebenswelt der Grenadierstraße im Berliner Scheunenviertel.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten hörte diese Welt auf zu existieren und Martin Beradt musste mit seiner Frau aus Berlin fliehen. Sie gingen ins Exil nach London und später nach New York. Dort starb der Autor 1949 im Alter von 68 Jahren bevor sein Roman erstmals 1965 in Deutschland erscheinen konnte.
Der Verlag „Das kulturelle Gedächtnis“ hat für die hier vorliegende Neuauflage eine mit historischen Fotos bebilderte, aufwändige Hardcover-Ausgabe gewählt. Die Bilder illustrieren nicht nur die im Roman beschriebenen Alltagsszenen, sondern zeigen auch die damaligen Häuserfassaden, die es heute so nicht mehr gibt.
Im Herbst 1927 kommt Frajim Feingold in der Grenadierstraße an. Er stammt aus einer ostjüdischen Gemeinde in Polen und dort verbindet man mit dem Berliner Scheunenviertel viele Erwartungen an einen sozialen Aufstieg. Diesen Blick von außen beschreibt Martin Beradt gleich zu Anfang seines Romans quasi als eine Art Einleitung:
“Frajims Eltern hätten sich schon deshalb für Berlin entscheiden dürfen, weil es in Deutschland lag. Zwar hatte in Deutschland schon damals eine Partei gegen die Juden Drohungen ausgestoßen, aber nie, so glaubten selbst die deutschen Juden, würde sie die Übermacht gewinnen, viel weniger je ihre Drohungen wahrmachen. Frajims Eltern entschieden sich für Berlin noch aus einem zweiten Grund. In [ihrer Heimatstadt] Piaseczno erzählte man sich sagenhafte Dinge von New York, man sprach geradezu von einem Paradies des Reichtums, und Berlin lag auf halbem Weg dorthin.“ (S. 6f)
Mit Frajim Feingold betritt auch die Leserschaft die heute untergegangene Welt der Grenadierstraße. Sie zeichnet sich durch sozialen Zusammenhalt, Menschlichkeit – auch mit ihren Schwächen –, tiefe Frömmigkeit und jüdischen Humor aus. Daraus entsteht ein unerschütterlicher Lebenswille, mit dem die Bewohner und Bewohnerinnen dieser Gasse allen Widrigkeiten und Gefahren des Alltags trotzen.
In Berlin hingegen war das Scheunenviertel als ein Hort des Verbrechens und der Armut verschrien und auch diese negative Seite findet Eingang in den Roman. Es ist die andere Seite der Straße mit ihren Gaunern, Dirnen und Betrügern.
Der Roman hat weder einen Protagonisten noch einen durchgehenden Handlungsstrang. Stattdessen beschreibt der Autor in einzelnen, oft unverbundenen Episoden das Leben in der Grenadierstraße mit allen seinen Freuden und Nöten. Da ist die gute Seele der Gasse, Frau Warszawski, die jedem Neuankömmling Kost und Logie gewährt, obwohl sie selbst kaum über die Runden kommt. Es gibt den Rabbiner, der trotz seiner eigenen unglücklichen Familienverhältnisse anderen die Scheidung ausredet. Stets präsent sind ferner die Hausierer und fliegenden Händler, die meistens mit weniger als mehr Erfolg ihre Ware anpreisen. Sie alle und noch viele andere bilden das soziale Mosaik der Grenadierstraße, die anders als ihr damals in Berlin weit verbreiteter schlechter Ruf eine „ehrwürdige Gasse mit Anstand war“ (S. 313).
Dieser Roman ist auch als ein zeithistorisches Dokument zu verstehen, weil darin die ausgelöschte Welt des ostjüdischen Lebens im Scheunenviertel wieder zum Leben erweckt wird. Allerdings müssen Leserinnen und Leser bereit sein, sich in die Lebensgeschichte jeder einzelnen Person und die zahlreichen, oft jiddischen Dialoge konzentriert einzulesen. Dann gelingt das Eintauchen in die so zahlreichen Facetten der vergangenen ostjüdischen Berliner Lebenswelt.
Martin Beradt
Beide Seiten einer Straße,
Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2020
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