Rezension von Ingobert Waltenberger.
Diesmal gibt es Ivan ohne seinen Bruder Mikhail, nachdem die beiden als „Pochekin Brothers“ Werke von Mozart, Haydn, Glière und Prokofiev für zwei Violinen eingespielt hatten. Schon damals überzeugten vor allem die russischen Werke voller innerer Spannung, aufgerauter Textur und wild entschlossenem Bogenstrich.
Auf der vorliegenden CD hat der Geiger Ivan Pochekin die beiden Violinkonzerte von Dmitri Shostakovich (1948 und 1967) im geschichtsträchtigen Großen Saal des Moskauer Konservatoriums mit dem Russischen National Orchester unter der musikalischen Leitung von Valentin Uryupin aufgenommen. Ivan Pochekin pflegt einen sehr persönlichen Zugang zu Shostakovich. Nicht nur weil Ivans Vater der Uraufführung des zweiten Violinkonzertes lauschen durfte, sondern weil der 1987 in Moskau geborene Ivan Pochekin in einem könnte man sagen typisch russisch (sowjetischen) musikalischen Biotop aufgewachsen ist, das demjenigen von Shostakovich in etwa entsprach.
Dementsprechend ist seine Art der Interpretation nicht nur technisch brillant, sondern vor allem aus tiefster Seele gesprochen und mit existenzieller Kraft serviert. Pochekin beschreibt das so: “Shostakovich‘ Musik spiegelt sehr genau wieder, was den Menschen in meiner Heimat widerfahren ist. Ich kann das nachempfinden und möchte auch mein Publikum dran teilhaben lassen, somit eine Art Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen und Authentizität bewahren.“ Natürlich kennt Pochekin auch das erhaltene Telefongespräch vom legendären Violinisten der Uraufführung und Widmungsträger David Oistrakh und Shostakovich, wo es um Detailfragen der Interpretation geht.
Ivan Pochekin konzentriert in seinem expressiven Ton alle bärenstarke Wut über das – wie wir wissen – nicht nur der Kunst gegenüber willkürliche Regime Stalins, den beißenden Spott über das stotternde Keifen des Kulturbeamten Shdanov, aber auch die Hilflosigkeit im Trauern, dieses sehnsuchtsvoll jüdische Volkslied im zweiten Satz und erst recht die trotzige Weltzugewandtheit durch unbedingten Überlebenswillen im Scherzo des ersten Violinkonzerts. Eine wie auch immer vaterländische Erbauung der proletarischen Klasse – wie sie dieser Quälgeist Andrej Shdanov 1948 von Shostakovich eingefordert hat – findet hier keinen Platz. Nicht Verharmlosung und dämmriges Entschlafen im beruhigenden Wohllaut von zur Propaganda herabgewürdigten Musik, sondern Auflehnung, Spucke und Krallen sind da zu vernehmen. Wir erahnen, wie das vielleicht war bei der durch einen US-Konzertimpresario ausgelösten, so späten Uraufführung durch David Oistrakh in Leningrad 1955. Sieben Jahre lang lag das Werk, vom kommunistischen Regimes als dekadent gebrandmarkt, ungehört vergraben…
Einen guten Anteil an der grandiosen Wirkung dieser scharf-aggressiven Interpretation hat das Russische National Orchester, ein rein privates Kollektiv, nur von Sponsoren finanziert. Der Dirigent und Klarinettist Valentin Uryupin, den wir schon von den Bregenzer Festspielen (Eugen Onegin) und dem RSO Wien kennen, ist mit seinem Solisten hier ganz auf einer Ebene des Ein-Verständnisses. Wenn die dunklen Streicher mit dem klagenden Ton der Solo-Violine ins Zwiegespräch kommen, dürfen wir einer Erzählung lauschen, die jenseits der Worte klar Position bezieht. Für mich wird da die Botschaft von Shostakovich deutlich: ‚In die Kunst dürft/müsst Ihr Euer Innerstes legen, die Sprache wird ohnedies nur von jenen entschlüsselt werden können, die es was angeht.‘ und ‚Ihr entscheidet darüber, was bleibt‘. In der abstrakten Ästhetisierung durch Musik gibt es über den geschichtlichen Aspekt der Entstehung hinaus die Zeitlosigkeit der Emotion von Menschen, die in Bedrängnis sind, wodurch auch immer. Wer sich ein Bild von den Ängsten des Komponisten Shostakovich während der Phase seiner Verfolgung und dem Psychoterror der Möglichkeit des Abgeholtwerdens von der Geheimpolizei NKWD machen will, der lese den hervorragenden Roman „Der Lärm der Zeit“ von Julian Barnes.
Das zweite Violinkonzert, reduzierter und abgeklärter, scheint den steinigen Reminiszenzen auf einer kargen Tonspur zu folgen. Eine Mondlandschaft der Klänge, durch die und mit der ein imaginierter Mann beinahe einsam auf der Geige improvisiert. Jeder Schritt will in der Interpretation mit Bedacht gesetzt sein, so wie es 1967 der schon von einem Herzinfarkt gezeichnete Komponist langsam Note für Note angab. Auch in diesem letzten Konzert von Shostakovich kommt der Cellogruppe eine wesentliche konzertierende Funktion mit der Geige zu. Ivan Pochekin entlockt seinem Instrument die herb-bitteren Töne mit einer vollkommenen Hingabe, besonders das untere Register ist voller Wärme und leuchtet in der gedämpft dunklen Aschenglut.
Trotz der jüngsten Veröffentlichungen der berühmteren Pochekin-Kollegen Tetzlaff und Zimmermann haben wir es hier mit einer definitiven Interpretation zu tun. Das hat auch damit zu tun, dass hier das bessere Orchester am Werk ist, und Ivan Pochekin in seiner weniger auf schöne Töne bedachten Wiedergabe mehr von den zornigen Entladungen, der permanenten subkutanen Gereiztheit vermittelt. Er scheint so die Grenzen hin zu unserer erahnten Wahrheit extremer auszureizen.
Das Album ist als Mahnung voll herber klanglicher Schönheit. Ein Spiegel menschlicher Verfasstheit und Aufruf zum Besseren. Die Möglichkeit dazu als Kant’scher Imperativ.
Dimitri Schostakowitsch: 1. und 2. Violinkonzert
Ivan Pochekin, Violine
Russian National Orchestra
Ltg. Valentin Uryupin
Hänssler / Profil, 2020
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