Von Birgit Koß.
Heute Abend eröffnet Leïla Slimani das diesjährige Internationale Literaturfest Berlin und wird in einer anschließenden Veranstaltung ihren neuen Roman vorstellen. Die französisch-marokkanische Autorin, 1981 in Rabat geboren, wuchs in Marokko auf und studierte an der Pariser Eliteuniversität für Politik Science Po. Sie gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs. Mit ihrem Roman “Dann schlaf auch du“ gewann sie den Prix Goncourt.
Ihr jüngster Roman „Das Land der Anderen“ stand wochenlang auf Platz 1 der französischen Bestsellerliste. Darin erzählt sie eine Geschichte, die auf dem Leben ihrer Großeltern basiert.
Die junge, lebenslustige und neugierige Elsässerin Mathilde lernt 1944 den marokkanischen Offizier Amine kennen, der als Kolonialsoldat auf Seiten der Franzosen das Elsass von den nationalsozialistischen Besatzern befreit. Die beiden verlieben sich ineinander und heiraten – kirchlich. 1946 betritt Mathilde an der Seite ihres Mannes afrikanischen Boden und taucht in eine muslimisch-arabische Welt ein. Ganz schnell muss sie lernen: „So ist das hier.“ Sei es, dass ihre Schwiegermutter so gut wie nie das Haus verlässt, Bildung für ihre Schwägerin als überflüssig angesehen oder erbarmungslos auf den Maulesel einprügelt wird.
Amine hat von seinem Vater eine kleine Farm geerbt, doch der Boden ist steinig und wenig fruchtbar, während die ertragreichen Böden in der Umgebung französischen Großgrundbesitzern gehören. Immer wieder wird die Liebe und große Anziehungskraft zwischen den beiden auf eine harte Probe gestellt. Die große, hellhäutige, gebildete Frau passt nicht zu Amines Welt und bei den französischen Siedlern blickt man auf Mathilde herab – „Mischehen“ sind verpönt.
Die beiden bekommen zwei Kinder, die auf dem abgelegenen elterlichen Grundstück sehr frei aufwachsen. Doch dann muss sich die Tochter Aischa in das Leben der von französischen Nonnen geführten katholischen Schule in Meknès einfügen. Schließlich beginnt die Unabhängigkeitsbewegung aus Algerien auch auf Marokko überzugreifen. Amines kleiner Bruder schließt sich der Untergrundbewegung an. Amine, als hoch dekorierter Soldat der französischen Armee, ist nicht mehr sicher und hat außerdem das Gefühl, sein eigenes Volk zu verraten. Mathilde konvertiert zum Schutz ihrer Familie zum Islam und wird zu Miriam.
Der „Zitrangenbaum“
Leïla Slimani zeigt in den Beschreibungen des Alltags ihrer Figuren, wie schwer es ist, kulturelle Verschiedenheiten auszuhalten. Ein wiederkehrendes Bild im Roman ist der „Zitrangenbaum“: Amine pfropft für seine Tochter auf einen Orangenbaum einen Zitronenzweig und erklärt Aischa „Wir sind wie dein Baum, halb Zitrone, halb Orange. Wir gehören zu keiner Seite.“ Seine Früchte sind bitter und ungenießbar.
Doch wer sind „die Anderen“ aus dem Titel des Romans? Handelt es sich um die Welt vom Amines Marokko oder Mathildes Frankreich, nach der sich beide einerseits sehnen und zu der sie sich doch nicht mehr zugehörig fühlen? Oder ist es aus Sicht Mathildes die Welt der Männer, die sich so enorm von ihren Normen, Bedürfnissen und Werten unterscheidet?
Leïla Slimani beschreibt das Leben ihrer Protagonisten auf unaufgeregte Weise. Sie wechselt die Perspektiven und Zeiten, bewertet und bemitleidet nicht. Schlicht ist ihre Sprache und schafft doch einen großen Spannungsbogen und lässt all die vorherigen Fragen entstehen. Sie zeichnet ein sehr deutliches Bild der vielen Verwerfungen und Herabsetzungen für diejenigen, die nicht der Norm entsprechen und zeigt, was draus folgt. Zum Ende des Romans setzt die Autorin einen kräftigen Akzent. Aischa betrachtet 1955 vom Dach des Hauses ihrer Eltern die brennenden Farmen der französischen Nachbarn und sieht sie als „die Anderen“ – „Sollen sie doch verschwinden. Sollen sie krepieren.“
Der Roman ist der erste Teil einer Trilogie, in der Leïla Slimani die Geschichte Marokkos von 1945 bis 2015 aufrollen will.
Leïla Slimani
Das Land der Anderen
Luchterhand Verlag, München 2021
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