Kolumne von Susanne Falk.
Wenn man viel Glück hat, dann trifft man irgendwann im Leben vielleicht auf einen Lehrer oder eine Lehrerin, der oder die einen inspiriert, voranbringt und es vermag, einem eine ganz neue Welt zu eröffnen. Ein Mentor, eine Mentorin im allerbesten Sinne. Umso schwerer wiegt der Verlust, wenn diese Person plötzlich nicht mehr da ist. Ein Nachruf.
Die Buchforschung ist ein ganz eigenes Terrain in der Germanistik. Hier geht es nicht darum, schwierige Texte zu interpretieren oder Autorenbiografien nachzuzeichnen, sondern es geht um das Drumherum, um das Verlagswesen, um Bibliotheksgeschichte, kurz – das Ganze hat viel mehr mit Detektivarbeit denn mit Literaturwissenschaft zu tun. Wer veröffentlichte warum in welchem Verlag welche Erstfassung? Was wurde aus jüdischen Verlegern während der Nazizeit? Und wohin sind all die wertvollen Bücher aus enteigneten Bibliotheken verschwunden?
Einer, der das alles wusste, weil er sich sein ganzes Berufsleben mit diesen Fragen beschäftigte, war mein Doktorvater Murray G. Hall. Er brachte mir bei, dass es nicht egal ist, in welchen Verlagen Autoren publizierten, was aus den Verlegern wurde und wie man mit dem geistigen Erbe einer ganzen Nation umgeht. Seine zweibändige „Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938“ ist heute ein Standardwerk und zeugt von der Akribie, mit der Murray an seine Forschung ging. Daneben war er einerseits ein bekannter Radiojournalist und andererseits ein sehr beliebter Professor an der Universität Wien, betreute viele Studierende über lange Jahre hinweg mit großem Einfühlungsvermögen und stets offenem Ohr für alles und jeden. Mir ist in meiner ganzen Unilaufbahn kein Professor begegnet, der sich so sehr über den Erfolg seiner Studierenden freuen konnte, oft auch lange Jahre nach Abschluss des Studiums noch Kontakt hielt und gespannt die weitere Laufbahn seiner Schützlinge verfolgte. Kein anderer reagierte so verständnisvoll auf die Sorgen und Nöte einer studierenden Mutter, die mit Baby auf dem Arm und dunklen Augenringen in seiner Sprechstunde saß und hinterher das Gefühl hatte, dass sie ihre Dissertation vielleicht doch noch fertigbekommen würde. Und das tat sie!
Mit feiner Ironie kommentierte Murray den Zeitgeist in Österreich und wäre doch trotzdem manchmal im Angesicht der großen Dummheit daran fast verzweifelt. Eben weil er ein empathischer, freundlicher, zugewandter Mensch war – ein Doktorvater im besten Sinne, wie es eine Studienfreundin von mir vor wenigen Tagen treffend formulierte. Murray hat uns allen, die bei ihm studierten, etwas gegeben, das nur die besten Lehrer hinbekommen: den unbedingten Glauben daran, das etwas Gutes aus dem entstehen kann, was wir tun.
Meine Lieblingsanekdote zu Murray ist die, bei der er aus Anlass meiner Promotionsfeier neben meiner Mutter zu sitzen kam. Sie wandte sich an ihn in der Hoffnung, mit ihm über meine Arbeit zu reden und eröffnete das Gespräch mit den Worten, dass sie meine Dissertation ja gelesen habe und… Murray fiel ihr ins Wort, grinste und sagte mit dem ihm eigenen, ganz zart durchklingenden kanadischen Akzent: „Ich auch!“ Dann lachte er leise, warf den Kopf etwas nach hinten und schien sehr zufrieden mit seinem Witz.
Am 4. September 2023 ist Murray G. Hall nach kurzer schwerer Krankheit in Wien verstorben. Wir werden ihn schrecklich vermissen!
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My books! “Goodbye, Murray!”
If you’re very lucky, at some point in your life, you might encounter a teacher who inspires you, propels you forward, and has the ability to open up an entirely new world for you. A mentor in the truest sense of the word. The loss is all the more profound when that person is suddenly no longer with us. An obituary.
The field of book research is a unique domain within German studies. Here, the focus isn’t on interpreting difficult texts or tracing author biographies; instead, it revolves around the peripheral aspects, such as the publishing industry, library history, in short—this has much more to do with detective work than literary science. Who published their first edition with which publisher and why? What happened to Jewish publishers during the Nazi era? And where have all the valuable books from confiscated libraries disappeared to?
One person who knew all of this, because he dedicated his entire professional life to these questions, was my doctoral advisor, Murray G. Hall. He taught me that it matters which publishers authors chose, what happened to the publishers, and how to handle the intellectual heritage of an entire nation. His two-volume “Austrian Publishing History 1918-1938” is now a standard work and testifies to the meticulousness with which Murray conducted his research. In addition to his academic pursuits, he was a well-known radio journalist and a highly regarded professor at the University of Vienna. He mentored many students over the years with great empathy and always had an open ear for everyone. Throughout my university career, I never encountered a professor who could be so genuinely happy about the success of his students, often maintaining contact with them for years after graduation and eagerly following their further careers. No one else reacted as understandingly to the concerns and struggles of a student mother who sat in his office with a baby in her arms and dark circles under her eyes, only to leave with the feeling that she might still be able to finish her dissertation. And she did!
With a subtle sense of irony, Murray commented on the zeitgeist in Austria and yet, at times, he almost despaired in the face of great ignorance. That was precisely because he was an empathetic, friendly, and approachable person—a doctoral advisor in the best sense, as a fellow student of mine aptly put it just a few days ago. Murray gave all of us who studied under him something that only the best teachers can give: an unwavering belief that something good can come from what we do.
My favorite anecdote about Murray is the one where he sat next to my mother at my doctoral celebration. She turned to him, hoping to discuss my work, and began the conversation by saying that she had read my dissertation, and… Murray interrupted her, grinned, and, in his gentle Canadian accent, said, “So did I!” Then he chuckled softly, tilted his head slightly backward, and seemed very pleased with his wit.
On September 4, 2023, Murray G. Hall passed away in Vienna after a brief and serious illness. We will miss him terribly!
Liebe Barbara Hoppe,
was für eine Wertschätzung ,welch Respekt , Hochachtung und Bewunderung in Ihren Worten klingt. Ein berührender Text – diese und dessen Würde ist sichtbar und spürbar. Vielen Dank für dieses Samenkorn 🙏🌱
Grüne Grüße
Angelika Kölle
Dieser Dank gilt Susanne Falk, Autorin bei Feuilletonscout. Herzliche Grüße Barbara Hoppe