Rezension von Ingobert Waltenberger.
„Fridolin, ach wie dein Schnurrbart sticht“
„Die Rose von Stambul“ ist Teil des verdienstvollen Leo-Fall-Zyklus von cpo . Nach „Die Kaiserin“, „Der fidele Bauer“, „Brüderlein fein“, „Madame Pompadour“, „Paroli“ und „Die Dollarprinzessin“ handelt es sich also um die siebte Veröffentlichung. Die „Rose von Stambul“ erlebte 1916 seine Uraufführung am Theater an der Wien. Mit 422 Ensuite-Vorstellungen wurde sie zur erfolgreichsten Operette in der Geschichte des Theaters an der Wien nach Franz Lehárs „Lustiger Witwe“. Dass sie nicht größere Kreise bis jenseits des Atlantiks zog, lag – wie bei Emmerich Kálmáns „Csárdásfürstin“ – vor allem am Ersten Weltkrieg, durften doch die Theater der Alliierten keine deutschsprachigen Werke mehr spielen. Soweit die Musikgeschichte.
Worum geht es in dem Libretto von Julius Brammer und Alfred Grünwald? Achmed Bey, der Sohn eines türkischen Ministers, wird verheiratet mit Kondja, der „Rose von Stambul“. Diese aber hat sich per Briefwechsel in den Schnulzenautor André Lery verliebt: Sie ahnt nicht, dass sich hinter dessen Pseudonym niemand anderes verbirgt als ihr Ehemann. Als Zweitpaar fungieren Fridolin Müller, der Sohn von Müller senior (Reeder aus Hamburg) sowie Midili Hanum, ebenfalls aus dem Harem des Paschas Kamek. Freilich hegt Müller senior andere Pläne für seinen Sohn. Im dritten Akt im Hotel „Zu den drei Flitterwochen“ in einem Schweizer Badeort lösen sich die Knoten. Fridolin („Schnucki“) und Midili sind längst verheiratet. In Erwartung eines Enkelsohns freut sich schließlich auch der alte Müller. Gleichzeitig stößt Kondja auf Achmed. Sie erfährt, dass ihr geliebter Poet und Achmed ein und dieselbe Person sind. Liebe, Wonne, Waschtrog!
Natürlich barg das Stück auch soziokulturellen Sprengstoff in sich, geht es doch um die freie Partnerwahl türkischer Frauen und die Utopie der freien Liebe in der Zeit des ersten Weltkriegs oder generell die Antwort auf die schwierige Frage: “Wie passen orientalisch-islamische Tradition und westlich-aufklärerische Liberalität zusammen?”
Im der Operette ist es der Wiener Walzer, der zumindest musikalisch darauf einen ganz eigenen Reim schmiedet. A propos Reim: Ich kenne kaum eine Operette, wo großartigere Musik zu alberneren Texten komponiert wurde. Das hindert nicht, dass sich einige der größten Hits von Leo Fall finden darin finden. Die wunderbare Tenorschnulze “O Rose von Stambul, nur du sollst meine Scheherazade sein” sangen u.a. Fritz Wunderlich, Rudolf Schock oder Jerry Hadley. “Ein Walzer muss es sein” ist eines der vielen Duette, das beweist, dass die Epoche der Silbernen Operette auch einige der herzergreifendsten Höhepunkte des Genres zu bieten hat. Natürlich schwitzt diese stark duftende rosa Rose mit orientalischen Versatzklängen Kitsch pur aus, aber halt besten Edelkitsch – der manchmal für das Leben so unverzichtbar ist wie ein Stück Sachertorte mit Schlagobers oder Käsekrainer mit süßem Senf.
Die musikalische Umsetzung lässt keine Wünsche offen. Volksopernsängerin Kristiane Kaiser als Operettendiva ersten Ranges bringt für die Kondja Gül nicht nur schwärmerische Emphase mit, sondern vermag in der mit hochdramatischen Akzenten durchsetzten Partitur auch mit Peng und großem Opernton zu punkten. Nicht minder beeindruckend ist Matthias Klink in der Rolle des Ahmed Bey. Dieser dramatische Tenor, der mit dem Gustav von Aschenbach in Brittens “Tod in Venedig“ Operngeschichte geschrieben hat, ist ideal für die an orchestraler Dichte Richard Strauss’ Meisterwerken kaum nachstehenden Partitur. Der Tiroler Tenor Andreas Winkler, lange Zeit in Zürich engagiert, darf sich als “Lilly vom Ballett” mit travestierten Falsetttönen in den Harem einschleichen. Grandios walzerberauscht blödelt er sich durch die Rolle des Fridolin und bringt Midili im Duett das Küssen bei. Margareta Hinterdobler, lyrischer Sopran der Oper Leipzig, stehen als aufmüpfiger Midili (so heißt auf türkisch die Hauptstadt der 1913 an Griechenland verlorenen Insel Lesbos) die in höchsten Höhen blühenden Melodien ganz ausgezeichnet. Dem Ensemble gehören noch Eleonora Vacchi (Bül-Bül), Christof Hartkopf (Exzellenz Kammek Pascha), Hanne Weber (Djamileh), Michael Glantschnig (Hoteldirektor) und Wolfgang Klose (Müller senior) an.
Ulf Schirmer lässt das Münchner Rundfunkorchester und den Chor des Bayerischen Rundfunks im Wiener Dreivierteltakt tanzen. Karl Kraus fiel gerade wegen des fehlenden Tanzes im ‚Schnucki-Duett‘ eine wortscharfe Satire ein: “Pscht, ich will nicht prophezeien, aber ich glaube, der Wiener hat vorm Jüngsten Tag nichts zu fürchten. ‚Na und was habt ihr denn damals gemacht?‘ wird die Frage lauten? ‚Mir?‘, ‚Ja, ihr!‘, ‚Mir ham an Schampus trunken – a Bier dazu, an Wein!‘. ‚Und sonst nichts?‘ Der Wiener beginnt zu lallen und bringt nur das Wort ‚Der Marischka‘ (Anm.: umschwärmter 1. Rolleninterpret des Ahmed Bey) hervor. Die Anwesenden packt ein Grauen. Sie fliehen. Der Wiener lallt: ‚Geh sag doch Schnucki zu mir‘. Er holt den damals unterlassenen Tanz nach. Er wird infolgedessen mit nassen Fetzen zurück auf die Erde gejagt. Die Hölle würde sich den Gestank ausbitten.”
Wir stimmen mit dem Wiener Tagblatt überein, das befand, mit dem Stück könne der Komponist “den Feinschmecker ködern und zugleich den auf ein unschweres Genießen eingestellten Theaterbesucher vollauf zu befriedigen.” Hinweis: Neben einer englischsprachigen Einspielung (erschienen bei Naxos) stammt die einzige verfügbare Alternative zu diesem 2014 aufgenommenen Album aus dem Jahr 1956, wieder mit dem Münchner Rundfunkorchester unter Werner Schmidt-Boelcke und Elfie Mayerhofer, Ado Riegler, Rudolf Christ, Liselotte Schmidt, Kurt Grosskurth sowie Harry Friedauer in den Hauptrollen. Die Aufnahmen mit Fritz Wunderlich und Rudolf Schick sind längst vergriffen.
DIE ROSE VON STAMBUL
Kristiane Kaiser / Matthias Klink
Münchner Rundfunkorchester unter Ulf Schirmer
Live-Mitschnitt vom 11. Mai 2014 aus dem Münchner Prinzregentheater
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