Ein glanzvolles Konzert mit internationalen Interpreten aufzuführen – das reicht Sir András Schiff nicht. Lieber überrascht der ungarische Klavier-Philosoph mit musikwissenschaftlichen Fragestellungen, die Spieler und Zuhörer in neue Perspektiven treiben. Bei der Mozartwoche in Salzburg kontrastierte er Bach und Mozart im Zeichen der Tonart c-Moll. Von Stephan Reimertz
Wenn Sir András Schiff das Podium betritt, mittelgroß, mit seinem inzwischen weißen, erlauchten Haupt, dem vergeistigten Gesicht und dem Anflug eines ironischen Lächelns, glaubt man, in diesem k&k-Gentleman Max Reinhardt persönlich vor sich zu haben, den Gründer der Salzburger Festspiele. Zu Beginn und am Ende jedes Stückes steht Schiff vom Flügel auf und beschränkt sich ansonsten auf sparsame Gesten und Blicke, mit denen er vom Klavier aus sein Orchester leitet, das er Cappella Andrea Barca genannt hat, nach einem florentinischen Komponisten und Pianisten des frühen achtzehnten Jahrhunderts. Die Zuhörer im Großen Saal des Salzburger Mozarteums begreifen, dass sie einem besonderen Moment beiwohnen.
In früheren Jahrzehnten war die Mozartwoche rund um des Komponisten Geburtstag am 27. Jänner vor allem Treffpunkt der deutschen Mozartverbände. Man begegnete der Klavierlehrerin aus Regensburg, dem Chorleiter aus Augsburg, dem Musikkritiker aus Hannover. Längst hat sich die Veranstaltung zu einem Festival von internationalem Ansehen entwickelt, zugleich aber seinen lokalen Charakter bewahrt. In dieser offenen Atmosphäre findet ein Experiment wie jenes von András Schiff sein offenes, mitdenkendes Publikum. Wer zu ihm kommt, soll nicht allein Musik genießen, er soll auch etwas lernen. Wer erinnert sich noch an das Solistenkonzert bei den Sommerfestspielen 2010, wo Schiff uns mit seinem feinen ungarischen Akzent erklärte, warum er Beethovens Sonate op. 27/2 ohne Pedal zu spielen gedenke und warum wir sie nicht Mondscheinsonate nennen sollen? Damals spielte er auf einem Steinway, heuer setzt er ganz auf Bösendorfer, zwei Exemplare aus der Wiener Klavierfabrik stehen auf dem Podium im Mozarteum. Den vollen, warmen und reichen Klang des österreichischen Instruments könnte man mit einem kostbaren Bordeaux vergleichen, jenen des Steinway im Kontrast dazu mit einem trockenen Chablis, wenngleich man auch auf diesem in hinreißender Gesanglichkeit musizieren kann, wie Daniel Barenboim immer wieder beweist, der freilich über einen vom italienischen Klaviertuner Fabbrini modifiziertes Instrument verfügt.
Versuch über das Klassische
Im ersten Teil seines Konzerts, das man akademisch im besten Sinne nennen kann, rahmten Schiff und die junge aus dem Ruhrgebiet stammende Pianistin Schaghajegh Nostrati Mozarts Nacht Musique von 1782 mit zwei Klavierkonzerten von Johann Sebastian Bach ein. Musikgeschichtlich spielten sie darauf an, dass Mozart gerade in jenen Jahren Bachs Musik studierte. Beim Konzert für zwei Klaviere und Streichorchester BWV 1060 nimmt man an, das es sich um eine Bearbeitung des Komponisten handelt und ursprünglich ein Konzert für Violine und Oboe zugrunde liegt; etwas davon klingt in dem wunderbar elegischen Adagio noch durch. Die Tonart ist ungesichert, meist wird es in d-Moll gespielt. Auch dem Doppelkonzert BWV 1062 liegt offenbar ein d-Moll-Konzert zugrunde. Galant wechselten Schiff und Nostrati die Seiten.
Während in herkömmlichen Konzertprogrammen die Tonarten der Stücke kontrastierend aufeinander abgestimmt sind, stellte hier die durchgehende Haupttonart c-Moll den Zuhörer vor die Frage, was damit bewiesen werden solle. Zunächst muss man sich vergegenwärtigen, dass man für den gesamten Geltungsbereich der temperierten Stimmung den einzelnen Tonarten eigene Charakter zugeschrieben hat. Ein reiches Musikschrifttum entstand, welches die Verwendung von Tonarten bei den einzelnen Komponisten aufmerksam verfolgte und daraus eine Physiognomie spezifischer Tonarten abzuleiten versuchte. So ist für Johann Mattheson im Jahre 1713 in seinem in Hamburg erschienenen Buch Das neu-eröffnete Orchestre c-Moll »ein überaus lieblicher, dabei auch trister Ton«. In der Folge wurde die Gravitas als entscheidendes Charakteristikum von c-Moll angesehen und entsprechend komponiert. In der neuen geistesgeschichtlichen Konstellation am Ende des achtzehnten Jahrhunderts musste die Tonart freilich einen Ernst erhalten, der bereits von Depression und Erschrecken umnebelt war.
Man beachte auch die gedruckten Titelblätter der Notenausgaben aus jener Zeit; es ist eine Park-, Grabes und Trauerarchitektur, die Titel sind in Grabsteine eingemeißelt. Ohne dass die Komponisten und Notenstecher sich dessen bewusst gewesen sein müssen, wird hier eine anstrengende Trauerarbeit geleistet. Das siebzehnte wie das achtzehnte Jahrhundert, dieses letzte Aufglühen der abendländisch-aristokratischen Kultur, sind vorbei. Was kommt, ist Schweigen. So müssen gedachte Linien aus András Schiffs Konzert auf Beethoven zulaufen, welcher c-Moll noch einmal einen expliziten Charakter zuschrieb. Drei seiner Klaviersonaten, sogar eine Violinsonate, das III. Klavierkonzert und die V. Symphonie stehen in dieser Tonart, und besonderes die letzteren sollten das Grollende, Drohende, Cholerische im Temperament des Komponisten enthüllen und sich nur noch mit Mühe im Klassischen bändigen lassen.
Bach des technischen Zeitalters
Welche Beweiskraft aber haben die beiden Bachkonzerte, wenn es sich hier gar nicht um die Original-Tonarten handelt? András Schiff, Schaghajegh Nostrati und die Musiker der Cappella Andrea Barca trugen die beiden Konzerte mit einer musikantischen Verve und technischen Perfektion vor, die den doch idealen Klangkörper des Großen Saales in einer Weise ausfüllten, dass der Zuhörer glaubte, der Musik im Moment gar nicht gerecht werden zu können und die Konzerte noch einmal in einzelne Bestandteile zerlegen zu müssen, um die Kostbarkeit jedes einzelnen Taktes zu würdigen. Paradoxerweise wird man erst in der am Mischpult differenzierten Aufnahme des Konzertes seine Qualitäten im einzelnen aufschlüsseln können, besonders, wenn man über ein hochkarätiges Widergabegerät verfügt.
Im Live-Konzert wurde deutlich, dass die Bösendorfer-Version des modernen Klaviers neben seiner frappanten Klangfülle, Weichheit und Rundheit des Tons zugleich über eine spezifische Brillanz und Klarheit gebietet, dass man hier von einem maximalen Instrument für das technische Zeitalter sprechen kann. Schiff enthüllte zudem, dass er mit seinem Experiment nichts Nostalgisches im Sinn hat, sondern vielmehr einen Mozart, einen Bach von heute präsentieren will, auf neuestem wissenschaftlichen und technischen Stand.
Am Ende war es gar nicht entscheidend, ob die Bach-Konzerte nun in c-Moll gespielt wurden oder nicht. András Schiff bewies mit seiner Version der beiden Klassiker, dass es durchaus einen Bach des technischen Zeitalters gibt, dass der Komponist dabei aber völlig zeitlos bleibt. Es war ein ungeheuerer technisch-musikalischer Spagat, der hier gelang, und in der nächsten Zeit werden wir zweifellos einige Diskussionen über die zugrundeliegenden Verfahren erleben, wie auch darüber, ob sich mit András Schiffs Tonart-Konzert etwas beweisen ließ.
Die Fähigkeit zu trauern
Ein Problem besteht darin, dass sich seit dem achtzehnten Jahrhundert die gleichstufige Temperierung gegenüber der älteren, nicht gleichstufigen durchgesetzt hat, vom in Deutschland und Österreich seit dem zwanzigsten Jahrhundert durchgesetzten Standard-Kamerton 443 Hz einmal ganz abgesehen. Die Tonarten haben also vollkommen ihren Charakter verändert. Die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, da hätte Sigmund Freud auch im Bezug auf das Musikhören Recht, und eine Wirkungstreue (um einen Begriff des Proust- und Sophokles-Übersetzers Rudolf Schottlaender zu bemühen) schon gar nicht.
Wer Bach und Mozart in derselben Tonart kontrastiert, offenbart damit allerdings auch die radikalen Unterschiede zwischen diesen beiden um drei Generationen auseinanderliegenden Komponisten. Wenn es scheint, dass die Neuzeit keinen Menschen kennt, der sicherer vom Sein durchdrungen ist als Johann Sebastian Bach, schlägt Mozart am Ende seines Lebens deutlich hörbar eine andere Seite auf. Ist die Gravitas bei Bach noch vollkommen in der Sicherheit des Seins eingebettet, wird am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts deutlich, dass ein Ende erreicht ist, welches nicht allein das Gesellschaftssystem betrifft.
Noch einmal schlägt András Schiff den großen Bogen zwischen Bach und Mozart im zweiten Teil des Konzerts, wenn er das Ricercar a 3 aus Bachs Musikalischem Opfer auf dem Klavier vorträgt, die Cappella Andrea Barca das Ricercar a 6, und sodann übergangslos Mozarts Klavierkonzert KV 491 folgt, mit Schiffs eigener Kadenz im ersten Satz. Überraschende Zusammenhänge werden hier konstruiert, und mancher Zuhörer mag darüber staunen, dass die Spekulation aufgeht. Das Ergebnis des aufregenden Konzerts ist zugleich eine Untersuchung und eine These; mit einem Wort: eine klingende Dissertation. Haben Tonarten nun eigene Charakteristika, wie in der Literatur behauptet? Schrieben die Komponisten den Tonarten mit Recht eine spezifische Physiognomie zu, indem sie dieselben entsprechend inszenierten? Ist c-Moll die Tonart der Gravitas, am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts noch eher funktional bestimmt, am Ende Ausdruck eines Todesbewusstseins? Viele Parameter bleiben ungesichert, viele Fragen offen. Am Ende bleibt ein durchdachtes, virtuoses Konzert von höchstem geistigem und musikalischem Anspruch, das die Zuhörer noch lange beschäftigen wird.
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