Wie weit kann die Kunst gehen, um humanitäre und ökologische Anliegen zu fördern? In der Kunst kann man alles – wenn man’s kann. Das Salzburger Marionettentheater schlägt sich auf die Seite der Wald- und Holzaktivisten. Von Stephan Reimertz.
In diesem Jahr besteht das Salzburger Marionettentheater, das Anton Aicher 1913 gründete, hundertzehn Jahre. Neben stilsicheren und poetischen Produktionen wie der seit vielen Jahren laufenden „Zauberflöte“ oder früheren Inszenierungen wie dem „Sommernachtstraum“ und der „Entführung aus dem Serail“ hat das Team des weltberühmten Figurentheaters in den letzten Jahren auch immer wieder den die Stadt niedertrampelnden Horden des Tourismus den kleinen Finger gereicht; und dieser Teufel nimmt bekanntlich die ganze Hand. Nicht allein setzte man die Marionettenversion eines entsetzlichen bei Amerikanern beliebten Filmmusicals aufs Programm, man bietet bis heute auch eine Version von Highlights aus dieser Sphäre an, die unverwandt zwischen dem „Barbier von Sevilla“, der „Zauberflöte“ (Lang- sowie Kurzversion), „Fidelio“, der „Fledermaus“ usw. im Programm steht.
Der Kunstverstand lässt zu wünschen übrig
Die Puppe ist, wie Kleist in seinem Aufsatz über das Marionettentheater betont, »antigrav«. Sie kann schweben, auch poetisch und geistig. Der alte Baum in Salzburg indes ist ein alter Hut. Seine schwerfällige Pädagogik zieht dich hinunter wie die schlechtere Produktionen des Berliner Gripstheaters in den Siebziger Jahren. Hier schwebt nichts, hier fällt alles platt auf den Bauch. Dabei schreitet von Alters her das Salzburger Puppentheater, mit Pierre Bourdieu zu sprechen, durch die Dimensionen des legitimen Geschmacks, das ist auch seine Sphäre, wühlt aber zunehmend in den Niederungen des mittleren, wenn nicht gar den Abgründen des populären Geschmacks. Leider ist die neue, bei der Mozartwoche vorgestellte Produktion ein Beispiel solcher Geschmacksverirrung: Der alte Baum oder: Franzis Reise zum Ende der Welt, das schon im Titel an zeitgenössische Erbauungsliteratur anklingt. Bereits wer die Handlung nachliest, ahnt Schlimmes: »Für das Mädchen Franzi sind Bäume keine innerstädtischen Platzverschwender, sondern lebendige Kraftbündel, die es um jeden Preis zu erhalten und zu vermehren gilt. Bestärkt durch ihren Freund Moo und Gleichgesinnte startet sie zu einem großen Abenteuer ans Ende der Welt, um mithilfe eines ganz besonderen Baumes einen großen Beitrag zu leisten.« Sind wir hier im Kinderladen oder im Puppentheater?
Hinter dem Diskurs herhinken
In Sachen waldwirtschaftlicher und urbanistischer Diskussion rennt das Marionettentheater offene Türen ein. Nicht nur in Forstbestsellern wie jenen von Peter Wohlleben, fast täglich in den Nachrichten und in den Fraktionen aller Parteien in ganz Europa wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, in den Wäldern zehrende Monokulturen durch widerstandsfähigen Mischwald zu ersetzen. Zudem konnten wir alle besonders im ersten Corona-Jahr 2020 miterleben, wie überraschend sich der Wald erholte, wie kräftig und farbintensiv er sich belebte, als der Autoverkehr dank Homeoffice spürbar abnahm. Und man liest in allen Medien regelmäßig Beiträge über neue Begrünung von Innenstädten. Doch so sehr ein Puppentheater an gutem Holzwuchs interessiert sein muss: Ist dies alles ein abendfüllendes Thema für ein Marionettenstück?
Ein Gutmensch ist noch kein Künstler
Wer Anton Aicher und Greta Thunberg in einer Person sein will, ist am Ende keines von beiden. Mit politischem Opportunismus ist in der Kunst kein Blumentopf zu gewinnen. Mit guten Absichten macht man schlechte Kunst. Dürfen wir uns als Nächstes auf einen Transgender-Pinocchio freuen? Allein so richtig aus dem Ruder läuft es bei der musikalischen Gestaltung. So wenig die Werke Mozarts, wie jene anderer Meister, sakrosankt sind, so wenig sind sie ein Steinbruch, aus dem jeder beliebig herausbrechen kann, was ihm gerade taugt. Welch naive Dreistigkeit, dem Publikum der Mozartwoche einen solchen musikalischen Eiersalat vorzusetzen. Schon mit der Ankündigung: »mit dem Besten vom Besten was Mozart zu bieten hat!« begibt sich das Marionettentheater in die Logik diverser Mozart-Dinners und ähnlicher Veranstaltungen, mit dem die kleine Stadt Salzburg zu ihrem langfristigen Schaden auch noch den Massentourismus binden will, statt sich auf sein treues Stammpublikum zu konzentrieren.
Wo bleibt der Zauber?
Was die Wiener Theatermusiker sowie Mitglieder des Orquestra Iberacademy Medellín in den Arrangements von Mozartstellen von Tscho Theissig unter seiner Leitung dann abfackeln, entspricht einer Reduzierung auf entleerte Schlüsselstellen aus dem Werk des Meisters, eine kokette Unterwerfung unter den Warencharakter missglückter Kunstrezeption. Mit dem Alten Baum hört das Salzburger Marionettentheater auf, ein Ort der Kunst zu sein und wird zu einer Art Kaufhaus, die musikalischen Themen werden zu Markenartikeln. An Stellen wie der turbulenten Landung eines Fesselballons oder den Glühwürmchen bei Nacht leuchtet dann der alte Zauber des Salzburger Marionettentheaters noch einmal auf. Nach dieser Geschmacksverirrung, dem Aussetzen des Kunstverstandes, sollte sich das Marionettentheater auf seine berühmte, seit hundertzehn Jahren immer wieder bewiesene Magie zurückbesinnen, zur Kunst zurückkehren und zur rettenden Ehrfurcht der Marionette vor sich selbst.
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