Welt-Spiel, das herrische, mischt Sein und Schein bei den Salzburger Festpielen: Asmik Grigorian, Violeta Urmana, Juan Francisco Gatell, Michael Arivoni und Peixin Chen singen und spielen Sergej Prokofjews herausfordernde Oper Der Spieler . Die Wiener Philharmoniker unter Timur Zangiev verwirklichen eine der beunruhigendsten Partituren, die das Musiktheater kennt. Von Stephan Reimertz.
Sergej Prokofjew hat mit seiner Oper Der Spieler 1917 ein psychologisches Drama geschaffen, das bis heute fasziniert. Basierend auf Fjodor Dostojewskijs gleichnamigem Roman, taucht Prokofjew in die Abgründe der Spielsucht und die Verdorbenheit einer fiktiven Kurstadt ein, einer Art Wiesbaden oder Baden-Baden. George Tsypin, Bildhauer, Architekt, Bühnenbildner für Oper, Musical und große Spektakel sowie Installationskünstler, hat für sein Bühnenbild der Salzburger Inszenierung ein Trumm in sieben verschiedenen Größen hergestellt, das als Verbindung von Spieltisch, Taufbecken und fliegender Untertasse immer wieder hinauf und hinunter schwebt, leuchtet, blinkt, und die ganze überbreite Bühne der Felsenreitschule in immer wieder neues Licht taucht. Damit hätten wir also das Problem des Bühnenbildes gelöst.
Etwas leichter macht es sich Camille Assaf mit den Kostümen: Sie tut allen Figuren Alltagskleidung von heute an. Damit hätten wir auch das abgehakt. Kleine Änderungen am Libretto wird auch derjenige bemerken, der für das Verständnis des russischen Textes auf die Obertitel angewiesen ist: Als die Oper 1917 uraufgeführt wurde, gab es weder Handys noch Telefone und auch keinen Punk wie die in die Höhe stehenden Haare des Regisseurs, über den es auf der Website der Festspiele heißt: »Peter Sellars hat sich mit seinen bahnbrechenden und innovativen Interpretationen von Meisterwerken und mit Gemeinschaftsprojekten in Zusammenarbeit mit einer außerordentlichen Bandbreite an Kunstschaffenden internationales Ansehen erworben.« Naja; eher mit seiner Frisur. Vielleicht eine Verwechslung mit Peter Sellers (1925 – 1980)?
Nichts geht mehr
Sellars hat seine liebe Not, Struktur in die Personenregie zu bringen. Das ist aber nur bedingt seine Schuld und liegt auch nicht an seinem Haar-Tschupperinchen. S. S. Prokofjew hat sich für seine erste größere Oper das Libretto selbst zusammengebastelt, und er war leider kein begabter Dichter-Komponist wie etwa Richard Wagner, Modest Mussorgskij oder Ernst Krenek. Besonders im zweiten Teil des pausenlosen, in Salzburg 135 Min. dauernden Musiktheaters gibt es ein ewiges Vor und Zurück, ein Kein-Ende-finden-Können, das zur Frustration des Zuschauers führt. Hier bringt der Librettist Prokofjew den Komponisten Prokofjew in die Bredouille. Es gäbe immer wieder neue Möglichkeiten für den vom Zuschauer schon lang ersehnten Schluss, allein der Musikant kann nicht aufhören.
Alle Opern sind zu lang, außer denen von Richard Wagner, dabei zählen sie, rein chronometrisch gemessen, nicht gerade zu den kürzesten. Zeit ist eben relativ, besonders in der Musik. Bei Musikanten handelt es sich in der Regel um Leute, die keinerlei Empfinden für die Aufmerksamkeitsspanne ihrer Zuhörer haben. Ich war mit meinen 62 Jahren einer der jüngsten im Konklave der Salzburger Zuhörerschaft und konnte schon lange nicht mehr sitzen. Zuschauer, die das Glück eines Seitenplatzes hatten, stellten sich schon einmal am Rande auf, um den zweiten Teil der Oper stehend zu genießen. Eine Pause hätte man uns ruhig gönnen können, hat der Komponist sie nun vorgeschrieben oder nicht. So blieb man auf dem Sessel festgenagelt, und sehnsüchtige Gedanken galten dem im Foyer vor sich hin kühlenden Champagner.
Der Mensch am Ende seines Weges
Die bohrende, gnadenlose Studie über Spielsucht, die Dostojewskij Mitte der 1860er-Jahre seiner späteren Ehefrau Anna binnen 26 Tagen in die Feder diktierte, ist auch in Deutschland sehr populär und wird in jeder Generation neu übersetzt. Äußerst geschickt und nachgerade eine Vorahnung der psychologischen Studien über die Spielsucht, die erst im 20. Jahrhundert angestellt wurden, ist die Verquickung mit erotischen Motiven, die der Schriftsteller hier bewerkstelligt.
Die Salzburger Sänger-Darsteller geben alles: Asmik Grigorian als Polina findet ebenso in den spezifischen Wortakzent, den der Komponist hier entwickelt, wie Sean Panikka als besessener, unglücklicher Alexej Iwanowitsch. Prokofjew geht von einer ersten unbetonten, zweiten betonten und dann wieder einer unbetonten Silbe aus, um ein Atom für die Gesamtgestaltung seines dichterisch-musikalischen Kosmos zu schaffen. Es gelingt ihm eine gnadenlose Nervenmusik, in der den Streichern vor allem die Rolle zufällt, diffuses Unbehagens und permanente Erregung zu verbreiten. Die Hauptaufgabe fällt den Holzbläsern zu, deren meckernder, höhnender Charakter das satirische Element in den Vordergrund rückt.
Kapellmeister Timur Zangiev und den Wiener Philharmonikern gelingt ein eindrucksvolles Bild dieser für ihre Zeit neuartigen Partitur, unterstützt vom erstklassig disponierten Wiener Staatsopernchor. Peixin Chen als General findet sich mit großer Virtuosität in die stimmliche Gestaltung dieser spezifischen Psychostudie. Besonders viel Applaus des doch so erschöpften Publikums erhielt am Ende Violeta Urmana, die als Erbtante, die nicht sterben will, sondern statt dessen das Erbe verspielt, sich nicht nur stimmlich mit größter Energie und Einfühlung in ihre Rolle warf, sondern sich auch darstellerisch nicht schonte und mit jener Rücksichtslosigkeit das lächerliche, erbarmungswürdige und eben auch mitleidheischende Individuum verkörperte, das Dostojewskij wie kein anderer Schriftsteller der Weltliteratur zu beschreiben vermochte und für das Sergej Prokofiew eine komplexe, herausfordernde und für seine Zeit neuartige musikalische Sprache fand.
Noch einmal während der Festspiele am 28. August 2024.
Im Fernsehen beim ORF am 8. September 2024 hier
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Salzburg Festival 2024: “The Gambler”
World-game, mixing reality and appearance: Asmik Grigorian, Violeta Urmana, Juan Francisco Gatell, Michael Arivoni, and Peixin Chen perform in Sergei Prokofiev’s challenging opera „The Gambler.“ The Vienna Philharmonic, conducted by Timur Zangiev, brings to life one of the most unsettling scores in musical theater.
Prokofiev’s 1917 opera, based on Fyodor Dostoevsky’s novel, explores the depths of gambling addiction and moral corruption in a fictional spa town. George Tsypin’s set design for the Salzburg production features a dynamic centerpiece resembling a gaming table, baptismal font, and flying saucer, while Camille Assaf dresses the characters in contemporary attire.
Peter Sellars‘ direction struggles to impose structure, partly due to Prokofiev’s self-written libretto, which lacks the poetic finesse of other composer-librettists like Wagner. The opera’s second half, a continuous 135-minute performance in Salzburg, becomes a repetitive sequence, frustrating the audience with its inability to conclude. Despite this, the musicianship and vocal performances, particularly from Violeta Urmana as the non-dying aunt, are highly praised.
The Salzburg cast captures the psychological intensity and erotic undercurrents of Dostoevsky’s story, with the Vienna Philharmonic delivering a powerful interpretation of Prokofiev’s complex score, blending irony and emotional turmoil.