Protokoll einer Pilgerfahrt zu den Passionsspielen in Oberammergau 2022. Von Stephan Reimertz.
9:30 Uhr: Abfahrt
Man besteigt in München den Presseshuttle der Passionsspiele. Lustige Truppe von Individualisten in Räuberzivil. Auch eine sehr große Frau mit Erika-Mann-Frisur, knappem grünen Dirndl und goldenen Pumps mit Stilettoabsätzen. [Spoiler: Auch in Oberammergau selbst wird sich im Laufe des Tages keine auffälligere Erscheinung finden.] Was den Transport meines Radls angeht, schrieb mir Frau Karen Pfann, Mitarbeiterin der Passionsspiele: »Ein einzelnes Fahrrad kann im Kofferraum schon mitgenommen werden – allerdings ohne Haftung für eventuelle Schäden. Bei mehreren Fahrrädern reicht der Platz im Kofferraum nicht aus. Achtung: Am Passionstheater gibt es nur begrenzt Abstellplätze für Fahrräder.« Welche Bedeutung das Radl hat, wird sich am Abend zeigen.
Nach einigen Minuten auf der Autobahn biegt der Bus in eine nachgerade hanebüchene Alpenlandschaft ab.
11:00 Uhr: Ökumenischer Gottesdienst
Das überdimensionierte Festspielhaus in Oberammergau ist bereits zu achtzig Prozent gefüllt. Der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Marx, und der Landesbischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern, Heinrich Bedford-Strohm, eröffnen, gut aufeinander eingespielt und per Du, die Zeremonie und predigen später gemeinsam. Als Gast spricht der Erzbischof von Kapstadt. Einige Leute haben Probleme dabei, das Lobet den Herren! zu singen. Zum Glück wurden in weiser Voraussicht Spickzettel verteilt. Der Chor singt u. a. das Sch’ma Israel, später das Shalom aleichem, und deutet damit ein Prinzip an, das sich in der Aufführung fortsetzen wird: Die jüdische Überlieferung soll ausdrücklich einbezogen werden. Anschließend ehrt der Bürgermeister die Veteranen der Passionsspiele, von denen es manche geschafft haben, bis zu zehn Mal an dem nur alle zehn Jahre stattfindenden Ereignis teilzunehmen. Offenbar haben sie als Kind in der Krippe angefangen.
12:30 Uhr: Die erste Maß
Aufgrund des anderthalbstündigen Eröffnungsgottesdienstes kommt der Besucher erst um halb eins in den Genuss seiner ersten Maß, allerdings vom Ettaler Klosterbräu. Käfer hat im Pressepavillon die Verköstigung übernommen. Einige Korrespondenten sitzen wie zum Letzten Abendmahl an einem langen mit Steckdosen versehenen Tisch und schreiben ihre Berichte bereits vor der Aufführung.
14:30 Uhr: Beginn des Ersten Teils
Die Vertreibung aus dem Paradies eröffnet als das erste der zahlreichen lebenden Bilder aus dem Alten Testament die Folge der Szenen des Alten Bundes, mit dem das Spiel immer wieder ergänzt wird, um die Beziehung der Worte Jesu zu den Alten Schriften zu zeigen, auf die er ja selbst wiederholt hinwies. In diesen Chorszenen ist am meisten von dem ursprünglichen Text aus dem siebzehnten Jahrhundert erhalten, während sich in den Sprechszenen modernisierte Prosadialoge finden. Das Orchester ist unter der Bühne verborgen. Aus der Musik schimmert ihr Ursprung aus der Frühklassik ebenso hervor wie die Überarbeitungen von Anfang und Ende des neunzehnten Jahrhunderts wie des zwanzigsten. Eine überraschend emotionale Nervenmusik!
Die einzelnen Akte heißen »Vorstellungen«. Beim Einzug in Jerusalem tritt ein echter Esel auf, was sonst im Theater nur über den Regisseur gesagt werden kann. Alle Darsteller sind Bürger Oberammergaus, Männer, Frauen, Mäderln und Buben, kein Berufsschauspieler. Das verleiht der Darstellung ungeheure Kraft. Im konventionellen Sprechtheater stören die ausgebildeten Stimmen; (in der Oper könnten es ruhig ein paar mehr sein!) Hier aber spricht jeder aus der Unmittelbarkeit des dörflichen Lebens und seiner Haltung zur Heilsgeschichte. Alle Hauptdarsteller hätten auch das Zeug zu Berufsschauspielern, ja Filmstars. Doch dabei würden sie wenig gewinnen und viel verlieren. Unmittelbar aus sich selbst und ihrer direkten Beziehung zum Heilsgeschehen schöpfend, sind sie zugleich in die Lage versetzt, die Theatergeschichte intuitiv in sich aufzunehmen und dem Zynismus und pseudointellektuellen Gehabe des zeitgenössischen Regietheaters eine klare Absage zu erteilen.
Diese Aufführung ist nicht allein ein Bekenntnis zur Heilsgeschichte, sie ist zugleich ein Bekenntnis zum Theater.
Wer würde hier von Laienspiel sprechen? Wenn es überhaupt ein Theaterensemble gibt, das aufwendig herangezüchtet wurde, dann dieses; in sechzehn Generationen, zudem gehört es zur kulturellen Überlieferung des Dorfes, jeder wächst damit und darin auf. Oberammergau kann als einzigartiges genetisch-theatergeschichtliches Experiment bezeichnet werden.
Für die Figur des Jesus sind im Laufe der Festspiele, die bis Oktober laufen, zwei wechselnde Darsteller vorgesehen: Der 42 Jahre alte Frederik Mayet, Direktor und Pressesprecher des Münchner Volkstheaters, sowie der 26jährige Student Rochus Rückel. Unser Premierenjesus Mayet verfügt, auch dem Mikrophon geschuldet, denn anders kann man das Riesengebäude nicht bespielen, über ein stoßweises, nagelndes Idiom, welches den Menschensohn eher als Empörer auffasst, auch einen Hauch von Mick Jagger und Rudi Dutschke besitzt. Später freilich steht er stumm, würdig und königlich da. Als Maria ist die sechzigjährige Kauffrau und Holzbildhauerin Andrea Hecht vorgesehen, die wie die meisten Darsteller schon in verschiedenen Rollen bei den Festspielen auftrat. Sie wird sich am Ende in der Tat zu mitreißender Darstellung der Leiden der Gottesmutter steigern. Alternativ soll die 37jährige Stewardess Eva-Maria Reiser die Rolle übernehmen, sonst als Violinistin im Orchester. Studenten, Wissenschaftler, Gastwirte, Manager, Hoteliers, akademische Berufe oder handwerkliche: sie alle tragen zu diesem großen und familiären Gesamtkunstwerk bei, wie es auf der Welt nur in Oberammergau existiert. Wenn es überhaupt geborene Schauspieler und Festspielveranstalter gibt, dann diese.
Es ist ein Biotop, ein Terrarium der Sonderklasse, man könnte nur bis zu den berühmten römischen Schauspielerclans zurückgehen, um Vergleichbares zu finden, die ja ebenfalls in der Verbindung von Komödie und kultischem Spiel keinen Widerspruch erblickten, ebensowenig wie ihre Zuschauer. Das Theater ist kultischen Ursprungs und weit älter als der erhabene Mythos, welcher in Oberammergau gefeiert wird.
17:00 Uhr: Lunch im Pressepavillon
Meinen Teller mit Käfer-Gulasch und Ettaler Klosterbräu in der Hand, ergattere ich nur noch einen Stehtisch, was aber nichts ausmacht, schließlich bin ich lange genug gesessen. Meine beiden Stehplatzkameradinnen sind zwei Damen aus Altenburg und Gera, die mir von dem lebendige Theaterleben dort berichten. Nach dem Kaffee halte ich Picknick auf dem Rasen vor dem Festspielhaus. Ein mitgebrachtes Plaid macht’s möglich.
20:00 Uhr: Beginn des Zweiten Teils
Meine Sitznachbarin: Haben Sie schon irgendwelche Prominente gesichtet? Ich: Außer mir selbst noch keinen. Dann aber kam wie aufs Stichwort Dieter Hallervorden vorbei, trotz seines Alters fröhlich und agil wirkend. Die Afrikanerin, die hinter mir sitzt, fragt mich, ob ich zum ersten Mal dabei bin, was ich bejahe mit der Begründung: Die letzten Passionsspiele fanden vor zwölf Jahren statt, da war ich noch zu klein! Der Fröhlichkeit und Lässigkeit rund ums Festspielhaus steht die Festlichkeit der Aufführung selbst gegenüber. Der Festspielgedanke, schreibt Hofmannsthal, ist der eigentliche Kunstgedanke des bayrisch-österreichischen Stammes.
Bewundernswert ist die Farbdisziplin der Inszenierung: Graublau und Beigefarben dominieren in den neutestamentlichen Szenen, der Chor trägt strenges dörfliches Schwarz, goldene Töne kommen in den Standszenen aus dem Alten Testament hinzu. Hier setzt das Oratorium ein. Direkte Beziehungen zwischen Altem Testament und Heilgeschichte werden herausgearbeitet.
Die Erschütterung der meisten Zuschauer dürfte eine doppelte sein: Über die in Gehalt und Form so lebendige Darstellung der Heilsgeschichte und zugleich über die authentische Wiederbelebung des Theaters fern des pseudointellektuellen Gehabes, das man uns in den letzten fünfzig Jahren auf allzu vielen deutschen Bühnen serviert.
Ab 22 Uhr weht ein angenehmer Wind hinein. Während der Zuschauerraum mit einem riesigen Tonnengewölbe überdacht ist, bleibt der Himmel über der Bühne frei.
Der zweite Teil geht bis kurz vor 23 Uhr. Mein Hamlet, Parsifal und den Ring des Nibelungen gewohnter Allerwertester hat die insgesamt fünfeinhalb Stunden Aufführungsdauer problemlos ausgesessen.
23:00 Uhr: Heimfahrt
Ich radle am Bach entlang, der vom Vollmond beschienen silbern glitzert die acht Kilometer zum Hotel nach Ettal und liege fünf Minuten vor Mitternacht im Bett. [Spoiler: Am nächsten Tag werde ich eine eigene Terrasse vor meinem Zimmer entdecken und mich in abenteuerlicher Berglandschaft wiederfinden.]
Zu den Passionsspielen Oberammergau
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