Live-Mitschnitt aus dem Teatro Sociale Bergamo November/Dezember 2018, Videoweltpremiere. Rezension von Ingobert Waltenberger.
Das Donizetti Festival in Bergamo hatte eine blendende und zugleich enzyklopädische Idee: Aus Anlass der 200-jährigen Jubiläen der Opern des Meisters (insgesamt 70 an der Zahl) hat man die #donizetti200 series ins Leben gerufen. Jeweils 200 Jahre später werden genau die Opern ins Programm genommen, die also 1819, 1820 etc. komponiert bzw. uraufgeführt wurden. Dieses Jahr werden dies „Pietro Il Grande“, „L‘ange de Nisida“ und „Lucrezia Borgia“ sein. Der Spielplan dürfte so bis 2044 wohl vorgegeben sein, hatte doch Donizettis letzte Oper, „Caterina Cornaro“, 1844 in Neapel Premiere.
2018 wurde u.a. die allererste auf einer Bühne aufgeführte Oper des damals 21-jährigen Donizetti (das war bereits seine dritte, die erste hieß „Il Pigmalione“) gezeigt, und zwar „Enrico di Borgogna“ in einer Mischfassung aus zwei Manuskripten (Paris, Kopenhagen) von Anders Wiklund. Die Oper war so zuvor schon 2012 im Schloss Valdstena in Schweden zu sehen, in einer sehr respektablen Qualität, wie auf Youtube einfach nachzuprüfen ist.
Der wahrlich von seiner Herkunft nicht privilegierte Donizetti hatte Glück: Der Einfluss seines Lehrers Johann Simon Mayr dürfte wohl mit ausschlaggebend für den Kompositionsauftrag gewesen sein. Jedenfalls haben sich auch sein Librettist Bartolomeo Merelli und das Sängerehepaar Giuseppe De Begnis und Giuseppina Ronzi für ihn im Theater Vendramin a San Luca in Venedig (heute ist in diesem Gebäude das Teatro Goldoni beheimatet) eingesetzt.
Die Premiere geriet jedoch zum Fiasko, weil die vollkommen unerfahrene Sängerin der Elisa, Adelina Catalani, vor lauter Lampenfieber am Ende des ersten Aktes auf offener Bühne kollabierte und durch eine andere Kollegin ersetzt werden musste. Das war am 14. November 1818. Als sich die junge Catalani einen Monat später vom Schrecken erholt hatte, gab es noch zwei Aufführungen, am 15. und 16. Dezember. Das war es dann auch bis 2012 in Schweden.
Die herrlich erfindungsdichte Musik dieses Melodramma per musica, eigentlich eine waschechte Semiseria (zwei Bassbuffos treiben auf der Bühne ihr Unwesen), steht stilistisch noch ganz im Fahrwasser Rossinis, ein Drüberspritzer Cherubini als Zuwaage bestätigt eher die Regel denn die Ausnahme. Die Handlung geht auf August von Kotzebues fünfaktiges Schauspiel „Der Graf von Burgund“ zurück. Die Oper kommt mit nur zwei Akten aus, in denen koloraturenreich und melodienselig die Geschichte des Enrico=Heinrich, Thronerbe der Grafschaft von Burgund, erzählt wird. Als Baby wurde er von seinem Onkel Ulrico ausgesetzt, der vorher Enricos Vater, also den gräflichen Bruder, meuchlings aus dem Weg geräumt hatte. Wären da nicht das Schäferpaar Pietro und Agnese gewesen, die sich in ihrer Alpenhütte um den kleinen putzigen Grafen gekümmert hätten, gäbe es wohl keine Oper. Natürlich darf die Liebe nicht fehlen. Also lernt Enrico in den bergigen Wäldern Elisa kennen. Eines Tages ist sie verschwunden. Als Ulrico stirbt, besteigt dessen Sohn Guido den Thron und will selbiges auch mit Elisa tun. Pietros alter Kumpel aus dem Palast, Brunone, kämpft jedoch dafür, dass der legitime Erbe auf den Thron kommt. Unterstützer hat er auch schon mobilisiert. Enrico kommt ins Schloss, verdächtigt zwischendurch dämlicherweise Elisa der Untreue, besiegt nach einigem launigen Hin und Her Guido und darf Elisa heiraten.
Die Regie (Silvia Paoli) hat sich für die Wiederaufführung dieses ein wenig heroisch pastoralen und ganz viel kauzig komischen Stücks im Teatro Sociale was Besonderes einfallen lassen. In einer wunderbar kitschigen ‚Theater im Theater‘ Anordnung wurde die Bühne des San Luca im kuscheligen Teatro Sociale von allen Seiten reanimiert. Und so läuft und funktioniert das Stück als actiongeladene Komödie um Usurpation, eine Art von Liebe, männliche Vorherrschaft nicht zuletzt bei den Frauen, geschmiert wie am Schnürl in Kostümen (Valeria Donata Bettella) so barock aufgeladen und quietschbunt als wäre es eine Operette an der Komischen Oper Berlin. Eigentlich bietet uns die Aufführung eine köstlich humorvolle Persiflage der Egomanie auf dem Theater, auf die Eitelkeit und Empfindlichkeit der Macher und ihrer Stars.
Da dürfen die beiden Mezzosopranistinnen, Könnerin Anna Bonitatibus singt kultiviert in einer Hosenrolle den frustrierten Enrico, und Sona Ganassi darf mit ihr als witzig matronenhafte Diva Elisa gemeinsam in einer Badewanne durchs Wasser rudern. Putti in den Wolken garnieren wohlwollend die Szene. Rein stimmlich verfügt Ganassi über den dramatischeren, wärmeren Mezzo, was ja auch zur Rolle passt. Der Komponist selber wuselt als Inspizient durch die Gegend und scheint die Aufführung im Stegreif durchboxen zu wollen. Sogar einen Bären gibt es da, der eine Rolle wollte, aber unerhört von dannen ziehen musste. Selber schuld, wer ihn sich aufbinden lässt.
Die Spieltenöre Levy Sekgapane als ganz und gar ungefährlicher Guido und Francesco Castoro als Pietro charmieren mit lyrisch-hellem Ton, leicht gesponnenen Phrasen und vokaler Agilität. Luca Tittoto als Gilberto ganz in Gelb und Lorenzo Barbieri als Brunone dürfen als Bässe in den Tiefen der menschlichen Existenz naturgemäß mit satten tiefen Tönen wühlen. Als einziger Sopran der Produktion reüssiert Federica Vitali als Geltrude. Matteo Mezzaro steuert für den kleinen Part des Nicola, Bauer und Freund des Pietro, seinen angenehmen Tenor bei.
Auf Tonträgern gab es offiziell bisher nur die Eröffnungsarie des Enrico aus dem ersten Akt, gesungen von della Jones auf dem Label Opera Rara („A Hundred Years of Italian Opera, 1810-1820“, Opera Rara ORCH103 und ident „The Young Donizetti“, Opera RaraORR 299) zu hören.
Werte Leserschaft: Genießen Sie diese Aufführung, auch wenn die Academia Montis Regalis unter Alessandro di Marcho Saftvolleres bieten hätte können. Die treffliche Regie hat hier wohl die Kadenz vorgegeben.
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Donizetti: Enrico di Borgogna (Festival Donizetti 2018) –
Live-Mitschnitt aus dem Teatro Sociale Bergamo November/Dezember 2018
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