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Nicolaus Sombart – der Paradiesvogel von Berlin

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Literatur

Günter Erbe legt anlässlich des hundertsten Geburtstags von Nicolaus Sombart (1923 – 2008) eine scharfsinnige und umfassende Monographie vor. Wie ist es dem gelehrten Erotiker und schillernden homme du monde gelungen, Generationen von Künstlern, Autoren und Wissenschaftlern zu inspirieren? Von Stephan Reimertz.

In den letzten Jahren sind ja viele erinnerungssüchtige Denkwürdigkeiten über das West-Berlin der 1980er Jahre erschienen; man denke nur an die Monographie von Philipp Felsch über Peter Gente und den avantgardistischen Merve Verlag, die Darstellung des ersten Jahres des Wissenschaftskollegs von Uwe Pörksen oder Nicolaus Sombarts aufgedrehtes Journal intime der Jahre 1982/83, ebenfalls am Wissenschaftskolleg. West-Berlin, das eingemauerte Troja des akademischen Proletariats, wurde als Capua der Geister und Ort frappanter Zufälle dargestellt.

Allerdings gab es auch Oasen freundschaftlicher und geistiger Begegnungen, und da ist an erster Stelle das stets offene Haus von Antoinette und Hellmut Becker in Dahlem zu nennen. Das war dann ein Ort für Zufälle meist beim Lunch, wo man Künstler, Musiker und Politiker traf. In Hermann Wieslers riesiger Wohnung an der Spree wiederum stieß man auf Künstler bei einer Art pique-nique. Bemerkenswert war der Salon von Carolin Fischer, denn bei dieser handelte es sich um eine Studentin, wie Nicolaus Sombart im Grunewald aufgewachsen, bei der sich bedeutende Autoren und Gelehrte, vorwiegend aus dem nahen Wissenschaftskolleg, die Klinke ihrer Souterrainwohnung nahe dem Rathenauplatz in die Hand drückten. Mitte der Achtziger Jahre freilich wurde Nicolaus Sombart, Sohn des berühmten Nationalökonomen und einer rumänischen Boyarentochter, mit seinem sonntags stattfindenden jour fixe zwischen Fasanenplatz und Ludwigkirchplatz nahe dem Ku‘damm zum berühmt-berüchtigten Gastgeber. Nun hat einer aus seinem engsten Kreis, Günter Erbe, die Biographie des mythischen Salonlöwen geschrieben.

Der Maître de Plaisir

Dem vorherrschenden Typus des vergrübelten und ideologisch verengten kleinbürgerlichen deutschen Intellektuellen setzte Nicolaus Sombart in Leben und Denken den Entwurf seines Lebens entgegen: Leichtigkeit, vie expérimentale, Erotik, Stil, Weltläufigkeit – vor allem aber eine einzigartige Brillanz, welche die verschiedensten Sphären miteinander zu verbinden wusste. Seinem soziologischen Scharfsinn hat es mitnichten geschadet, dass bereits seine Mutter Corina, eine rumänische Aristokratin, in den Dreißigerjahren in Berlin-Grunewald einen berühmten Salon geführt hatte, in dem sich die interessantesten Menschen des Kontinents trafen. In seinem Vater Werner Sombart wiederum fand er ein prägendes und unerreichbares Vorbild, welches ihn sein Leben lang beschäftigte und herausforderte.

Günter Erbe schlüsselt die Persönlichkeit von Nicolaus Sombart differenziert auf, belegt sie mit Quellen, die er geistesgeschichtlich interpretiert, und macht die Entwicklung dieser alles andere als alltäglichen Biographie verständlich.

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In der Höhle des Salonlöwen

Nicolaus Sombart versammelte in seiner 200-qm-Wohnung in der Ludwigkirchstraße jeden Sonntag Berliner und eine internationale Gesellschaft, vom Hochadel bis zur Bohème. Das Motto seines jour fixe lautete: »Bedeutende Männer und schöne Frauen«. Von 1985 bis 2005 bot er ein entspanntes Soziotop, in dem man sich wohlfühlen, in dem man Mensch unter Menschen sein und andere interessante Menschen kennenlernen konnte.

Zeitgemäß ist nur der Unzeitgemäße

Sombart verblüffte immer wieder mit neuen Gästen aus dem Berliner Nachtleben, wie man sie tagsüber gar nicht zu Gesicht bekam, darunter Uta Reinhardt, Kathrin Rank oder Bettina Wächter. . Es kam hinzu, dass Sombarts Wohnung, eine Verbindung aus deutscher Gelehrtenstube und orientalischem Boudoir, eine Art Brückenkopf zum intellektuellen Paris darstellte. So lernte man bei ihm einige Leute aus der französischen Hauptstadt kennen, die man dort bisher noch nicht getroffen hatte, wie etwa den Literaturpapst Bernard Pivot, die Schriftstellerin Nathalie Sarraute, den Anthropologen Constantin von Barloewen, den UNESCO-Direktor Hans-Heinz Krill de Capello oder Sombarts Tochter Elisabeth, die in Frankreich eine berühmte Pianistin ist, nicht zuletzt aufgrund ihrer Fernsehsendung, in der sie Klavierstücke spielt und erläutert.

Wenn das Leben historisch wird

Im Grunde wusste Sombart, dass die deutsche Gesellschaft lange mausetot war und die Teestunden bei ihm bereits der Absacker nach dem letzten Ball. Der Fall der Mauer und die unmotivierte Verlegung der Hauptstadt von Bonn nach Berlin schien diesen Tod zu verzögern; bald freilich sollte sich zeigen, dass sie ihn nur besiegelte. »Da ihn keine gesellschaftliche Formation mehr trägt, die seinen Vorstellungen von Elite entspricht, bleibt ihm kein anderer Weg, als die Herrenattitüde in der Position des Exzentrikers zu behaupten«, schreibt Günter Erbe. »Umgeben von Mediokritäten erschafft sich der zu einer freischwebenden Existenz genötigte Grandseigneur eine imaginäre Welt, bildet einen Kreis von Adepten und ähnlich Denkenden um sich und zehrt von Gedanken an die beau monde der Vergangenheit.«  Es ist schon ein komisches Gefühl, wenn über lauter Leute um dich herum Biographien erscheinen. Die Einschläge kommen näher. Wenn dein Leben historisch wird, musst du dich fragen, ob du dich selbst überlebt hast. Günter Erbe tritt dem entgegen, indem er das Lebendige lebendig hält.

Gesellschaft schaffen, wo keine Gesellschaft mehr ist

Sombarts Wohnung war ein Trojanisches Pferd geistvoller Geselligkeit, das er mitten in die düstere Frontstadt hineingeschoben hatte. »Nicolaus Sombarts Mentalität und Habitus kennzeichnet eine antibürgerliche Bürgerlichkeit, die ganz im Sinne seines Vaters das Bürgerliche zugunsten eines aristokratisch mondänen Lebensstils zu transzendieren sucht«, schreibt Professor Erbe.

Sein Bild gewinnt an Kontur, wenn man etwa ihn neben den drei Jahre jüngeren Historiker und FAZ-Herausgeber Joachim Fest stellt. Beide waren brillante Schriftsteller, Fest freilich traumatisiert durch die Hitlerzeit, der er entgegenstellen wollte, was er Bürgerlichkeit nannte; freilich düster, ex kathedra und höhnisch anti-utopistisch. Sombart hingegen verband in Habitus und Philosophie Aristokratie und Bohème. Der Jünger von Fourier und Saint-Simon partizipierte an der utopistischen Seite der Achtundsechziger, Fest verwarf gerade diese. Beiden war ein steiler Snobismus eigen, bei Fest freilich monolithisch und starr, bei Sombart künstlerisch, bunt und phantasievoll. Schon der schwarze Granitblock der Hitler-Biographie, Fests Hauptwerk, stand im sichtlichen Gegensatz zu Sombarts spielerischer und provokativer Studie über Wilhelm II. Was Habitus, Koketterie und offen gelebte Sexualität angeht, verband Sombart weitaus mehr mit dem wiederum acht Jahre jüngeren Journalisten Fritz Raddatz, dem gar das unwahrscheinliche Kunststück gelang, den Älteren an Eitelkeit und Empfindlichkeit noch zu überbieten. Schrankenlosen Exhibitionismus hatten die beiden allerdings miteinander gemein. Der Weltweise wurde freilich dadurch genießbar, dass er offen zu seinen Schwächen stand.

Immer zehn Zentimeter über dem Boden

Nüchternheit der Darstellung und Fairness gegenüber seinem Gegenstand zeichnen Erbes Biographie aus. »Nicolaus Sombart hatte es schwer, aus dem Schatten seines Vaters heraus zu treten. Er musste es sich gefallen lassen, stets an diesem gemessen zu werden. Oft wurde er dabei als Wissenschaftler für zu leicht befunden.«

In dem neuen Buch wird verständlich, wie es der Bonvivant, Soziologe und Schriftsteller vollbrachte, ein Virtuose des Lebens zu werden, dem er zudem noch ein geniales literarisches Werk abrang. Erbe nennt ihn einen Lebenskünstler und »Jongleur mit vielen Bällen« und bietet zum Vergleich aus der Literatur Figuren wie Charles Swann auf. Wie alle, die sich ernsthaft um Literatur oder Wissenschaft verdient machen, bekam Sombart Schwierigkeiten mit der, was er selbst im FAZ-Fragebogen einmal »Herrschaft der Zwerge« genannt hat. Seit den siebziger Jahren bekamen wir alle es mit den Folgen jenes Phänomens zu tun, das paradoxerweise Bildungsreform geheißen hatte. Universität und Literaturbetrieb begannen, sich nach oben undurchdringlich abzuschotten. Allerdings genügte es Nicolaus Sombart nicht, der gesellschaftlichen Oberschicht des Kaiserreichs zu entstammen, einen berühmten Vater zu haben und die Kulturabteilung des Europarates zu leiten. Er begehrte auch eine Professur der Soziologie und wollte Literatur veröffentlichen. »

Hubert Burda, der, wie Erbe schreibt, »auch dann noch zu ihm hielt, wenn manche kostspieligen Eskapaden des in die Jahre gekommenen Élegant die Generosität des Jüngeren ernsthaft auf die Probe stellten«, gründete Focus. Im Februar 1995 schreibt Sombart in darin: »Das, was die herrschende deutsche Literatur, in ihren prominentesten Vertretern, so unerträglich macht, ist ihre hoffnungslose Kleinbürgerlichkeit.« Auch Erbe spricht von »Literatur aus der Wohnküche«. Nicolaus Sombart sagte über einen damals bekannten Berliner Buchautor, Illustrator und Politaktivisten: »Dass Günter Grass den Nobelpreis für Literatur bekommen hat und nicht ich, sagt alles über den deutschen Literaturbetrieb.«

Jenseits der Wohnküche

Liest man heute genussvoll die Registerarie seiner Gäste, begegnet man einem Who is Who des Weltgeistes. Wer aber nicht eingeladen war, verwandelte sich nicht selten in die dreizehnte Fee und sprach schlecht über einen Kreis, den er gar nicht kannte.

Allerdings war der junge Sombart schon bei den Nazis auf diesen Effekt gestoßen, wie Erbe jetzt noch einmal erzählt. Nicht ganz ohne Naivität und Koketterie hatte der Rekrut in seinem Lebenslauf für den Dienstvorgesetzten beim Kommiss geschrieben: »Was ich bin und weiß, verdanke ich der Bibliothek meines Vaters und dem Salon meiner Mutter.« Erbe: »Die Lagerleitung nahm diese Darstellung zum Anlass einer Schikane, um dem Rekruten klar zu machen, dass er sich auf seine Herkunft nichts einbilden könne und behandelt würde wie jeder andere auch.« Sombart kommentiert: »Da hatten die Proleten zugeschlagen! Ich brauchte mir meine Meinung über sie nicht zu bilden. Sie saß tief in mir. Aber die Demütigung treibt mir heute noch, wo ich dies schreibe, die Röte ohnmächtiger Wut ins Gesicht. Das war meine erste, konkrete, handfeste Konfrontation mit dem Nationalsozialismus.«

Tänzelnd auf der Feuerlinie des Weltbürgerkriegs

Die Londoner Times apostrophierte den Sonntagskreis als “a well-known rendezvous for the brilliant, the beautiful and the outrageous”. Natürlich schleicht sich eine gewisse Melancholie ein, wenn man die brillant geschriebene, wissenschaftlich abgesicherte Monographie von Günter Erbe heute liest, die zugleich die Darstellung einer Epoche ist. Allein, es gibt keinen Grund, einem richtigem Leben im falschen nachzutrauern, denn das ganze hatte, mitten in Berlin, diesem gegen jede Zivilisation gerichteten Aufmupf, etwas von Tanz auf dem Vulkan.

Eigenwillige éducation sentimentale

Liest man Erbes minutiöse Darstellung von Sombarts intellektuellem Entwicklungsroman, bestätigt sich der Eindruck, nicht der dreißigjährige Dienst im Europarat habe ihn vom Schreiben abgehalten, sondern fruchtloses Theoretisieren. Günter Erbe öffnet in seiner umfassend recherchierten Biographie auch unveröffentlichte oder unbekanntere Briefe und Aufsätze, so dass erstmals ein umfassendes Gesamtbild entsteht. Der große Charme dieses in einer ewigen Pubertät lebenden Schriftstellers und Denkers freilich lag im Orientalischen, ja Neptunischen seiner Persönlichkeit. Auch dieses Bild vermag Erbe mit unveröffentlichten Quellen farbenfroh zu ergänzen. So schrieb Sombart nach dem Krieg aus Italien an seine Mutter: »In Neapel heiraten, sich ein Häuschen in Positano kaufen, und hier nett miteinander leben: (gute Schwiegereltern im Hintergrund). Ist das nicht eine Sache?« 1948 an der Amalfiküste lernen wir den jungen Sombart gar als eine Art Tom Ripley kennen: »Es fehlt jeder Enthusiasmus, jeder Elan« »Es fehlt aber auch jedes Leiden, jeder wirkliche Haß. Meine Misanthropie liegt darin, daß mir alle Menschen höchst ‚schnuppe’ sind, nicht, daß ich sie verachte oder hasse, oder ein Ressentiment gegen sie habe. Im Gegenteil, ich habe sie nötig und gebrauche sie.«

Cover: Böhlau Verlag

Bonus Track: Mission nach Venedig

Erbe druckt einen Brief Sombarts aus der unmittelbaren Nachkriegszeit ab, in dem der junge Mann seiner Mutter gegenüber seine Armut beklagt. Erst dieses eindrückliche Nachkriegsdokument macht einen schrulligen und scheinbar paradoxen Zug Sombarts verständlich: So großzügig er von seinem Wesen her war, so bereitwillig er Kontakte teilte; in Geldsachen war er skurril geizig. So konnte man ihm die größte Freude machen, wenn man ihn ins Restaurant einlud, was aber nicht hieß, dass der Kellner ungeschoren davonkam: der wurde regelmäßig zur Schnecke gemacht.

Besonderes i-Tüpfelchen in Erbes Buch freilich ist ein unveröffentlichter Reisebericht Sombarts nach Venedig aus dem Jahre 1961. Hier zeigt Nicolaus Sombart wieder einmal mehr, welch fabelhafter Schriftsteller er ist. Und natürlich trifft er tout Venise. Als er am Lido von seinem geplanten Buchprojekt fabuliert, heißt es: »Bassani ist ganz begeistert von dieser Idee eines modernen Epos – und sogar die beiden Gallimard schauen, für einen Augenblick, wie neugierige Stelzvögel, die Schnäbel hebend, von ihren Zeitungen auf.«

Hochkarätige Monographie

Günter Erbe war Teil des harten Kerns von Sombarts jour fixe. Er gehörte in unserem Kreis zu den guten Zuhörern. Sein Zuhören hat sich ausgezahlt. Der Soziologieprofessor und Autor von Standardwerken, so über den Dandy, die Herzogin von Sagan oder die Kulturpolitik in der DDR, erschließt die Figur Sombarts vor dem weitausgefächerten geistigen Panorama seiner Zeit und seiner Welt. Erbe stellt das Thema nun auf eine geisteswissenschaftliche Ebene.

Wer sich künftig mit Nicolaus Sombart beschäftigt, wird an dieser Buchveröffentlichung nicht vorbeikommen. Mit Zurückhaltung und Disziplin hat der Autor Leben, Denken und Wirken des ungewöhnlichen Intellektuellen und Gesellschaftsmenschen ausgelotet, ohne ihm auf den Leim zu gehen. Angesichts eines unwiderstehlich zum skizzenhaften und überzeichneten Schreiben verführenden Gegenstands gelingen dem Autor Sachlichkeit, Sorgfalt und umsichtige Interpretation der vielfältigen gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Ebenen. Erbe gelangt zu einem Resümee, wie man es nicht besser auf den Punkt bringen kann: »Nicolaus Sombart hat stets in großen Projekten gedacht. Seine Wunschphantasien waren sein Lebenselexier. Aus diesem Fundus konnte er immer wieder schöpfen. Auch seine literarische Begabung konnte sich auf diesem Nährboden entfalten. Wie bei allen Doppelbegabungen ist die Gefahr der Vermischung verschiedener Genres dabei nicht ganz auszuschalten. So steht dem Schriftsteller Sombart zuweilen der Soziologe im Wege, und der Soziologe läuft nicht selten Gefahr, sich in poetischen Verklärungen zu verlieren.«

Günter Erbe
Nicolaus Sombart – Utopist, Libertin, Dandy
Böhlau Verlag, Köln 2023
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Nicolaus Sombart – the Bird of Paradise of Berlin
Günter Erbe has written a comprehensive monograph on Nicolaus Sombart, the renowned salon lion of West Berlin, who hosted artists, writers, and intellectuals in his 200 square meter apartment in the Ludwigkirchstraße every Sunday from 1985 to 2005. Sombart was known for his sociability, experimental lifestyle, and elegance, which defied the prevailing image of the inward-looking, ideologically narrow-minded German intellectual. His soirées were a bridgehead to intellectual Paris, where one could meet people from different spheres. Erbe’s book provides a nuanced understanding of Sombart’s personality and traces the development of his unique biography.

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