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Armenische Einblicke: „Auf der Straße heißen wir anders“ von Laura Cwiertnia

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Literatur

Von Birgit Koß.

Laura Cwiertnia arbeitet als Journalistin für „Die Zeit“. Sie ist die Tochter einer deutschen Mutter und eines armenischen Vaters. 1987 wurde sie in Bremen-Nord, einer tristen Hochhaussiedlung, geboren. Über ihre Familiengeschichte wurde zu Hause wenig gesprochen. Doch eines Tages reiste sie mit ihrem Vater nach Armenien. Diese Reise gab den Anstoß zu vielen Recherchen und Gesprächen über den armenischen Völkermord und die Geschichte der Gastarbeiterinnen in der Bundesrepublik und führten letztendlich zu diesem Debüt – „Auf der Straße heißen wir anders“.

Die Protagonistin des Romans heißt Karla oder als Kind Karlotta. Sie scheint viele Ähnlichkeiten mit der Autorin zu haben, die allerdings im Interview erzählt, dass sich die Geschichten ihrer Figuren beim Schreiben verselbständigt haben. Es beginnt mit dem Tod von Karlas Großmutter Maryam, die Anfang der 60er Jahre als Gastarbeiterin aus Istanbul nach Deutschland gekommen ist. Über ihre Vergangenheit hat sie nie gesprochen, deshalb ist Karla umso verwunderter, dass sie genaue Anweisungen zu ihrem Begräbnis nach armenischem Ritus hinterlassen hat. Außerdem erbt Karla einen goldenen Armreif, an dem ein Zettel mit einem Namen befestigt ist – Lilit Kuyumcyan. Keiner kennt diese Frau. Schließlich eröffnet Karlas Vater Ali ihr, das Kuyumcyan der Nachname ihrer Urgroßmutter Armine war. Mit viel Überredungskunst gelingt es Karla, ihren Vater zu überzeugen, mit ihr nach Armenien zu fahren, um sich auf Spurensuche zu begeben.

Doch bevor der Roman bei den ersten Eindrücken in Jerewan ankommt, erfahren wir in Rückblenden etwas über Karlas und Alis Kindheit. Die Autorin erzählt ihre Geschichte parallel in zwei Richtungen. Während sich Karla und Ali aufmachen nach Armenien und dort in Form einer sehr persönlich erzählten Reiserreportage Land und Leute kennenlernen und schließlich bis zum Familiengeheimnis vordringen, geht der andere Erzählstrahl immer weiter in die Vergangenheit der verschiedenen Figuren. Wir erleben Karlottas Kindheit im recht trostlosen Bremen-Nord, wo die Jugendlichen sich mit Wodka-Lemon und Joints auf Spielplätzen treffen oder in der Buslinie nach Bremen-Vegesack abhängen. Beim Wechsel auf die weiterführende Schule, kann der Schulleiter die Mehrheit der Namen seiner Schüler nicht korrekt aussprechen. Die allgegenwärtigen Vorurteile, Trostlosigkeit und Langeweile zeichnen Karlottas Leben, dem sie als Karla schließlich durch Bildung entkommt.

Ihr Vater Ali wächst in Istanbul bei seinen armenischen Eltern in ziemlicher Armut auf. Nachdem seine Mutter als Gastarbeiterin nach Deutschland geht, gelingt es seinem Vater, ihn nach Jerusalem in ein christliches Kloster zu schicken. Ali versucht alles, um dort dem Drill und den Anfeindungen durch Lehrer und die Umgebung zu entkommen. Doch auch zurück in Istanbul findet er keine Perspektive und folgt schließlich seiner Mutter, die inzwischen in Bremen arbeitet. Dort lernt Ali Karlas Mutter kennen und arbeitet als Taxifahrer.

Seine Mutter Maryam wächst als Kind armenischer Eltern in Istanbul ohne jegliche Schulbildung auf, weil ihre Eltern bei dem Genozid an den Armeniern während des ersten Weltkriegs im osmanischen Reich die Erfahrung gemacht haben, dass die Intellektuellen zuerst gefoltert und hingerichtet wurden. Verheiratet mit einem armenischen Schumacher erlebt sie, dass bei einem Pogrom in einer Nacht im September 1955 in Istanbul auch Armenier betroffen sind. Vor allem die griechische Minderheit wurde damals Opfer eines wütenden Mobs, der Geschäfte zerstörte, Menschen misshandelte und tötete. Aber auch türkische Juden und Armenier wurden in dieser Nacht zur Zielscheibe. Diese Tatsache ist bis heute nur wenig bekannt, zumal die Türkei noch immer den Genozid an den Armeniern nicht anerkannt hat. Da sie und ihre Mann in völliger Zurückgezogenheit  leben und nicht auffallen, bleibt ihr Haus verschont. Dazu kommt auch, dass sie ihre Namen in der Öffentlichkeit aus Angst um ihr Leben „türkisiert“ haben: Meryem statt Maryam, Hüssein statt Hagop und Ali statt Avi oder Avedis – „auf der Straße heißen wir anders“. Als Maryam dann schließlich nach Deutschland kommt, ist sie den Arbeitsvermittlern als Analphabetin vollständig ausgeliefert. Ihr wird der Pass abgenommen, sie wird von Stadt zu Stadt geschickt, verdient wesentlich weniger als die männlichen Kollegen.

Für ihre Darstellung hat Laura Cwiertnia viel und gründlich recherchiert. Sie erzählt diese zum Teil brutalen und grausamen Fakten sehr unaufgeregt. Durch den dauernden Zeit – und Perspektivwechsel erschließt sich ein detailliertes und vielfältiges Mosaik der Geschichte ihrer Figuren, das wir beim Lesen immer schon etwas früher und genauer erkennen als die Protagonisten. Daraus baut sich bis zum Schluss ein Spannungsbogen auf. Sie beschreibt den eingeübten Mechanismus des Verschweigens in den Familien, den sie auch persönlich erfahren hat über mehrere Generationen und macht ihn dadurch sichtbar, löst ihn auf. Liebevoll entwickelt die Autorin die Veränderung der Beziehung zwischen Tochter und Vater auf der gemeinsamen Reise, die trotz des großen Leids in der Vergangenheit, das für beide offenbar wird, auch eine große Bereicherung für sie darstellt. Laura Cwiertnia gelingt es, in ihrem Debüt den Genozid an den Armeniern und die Geschichte der  armenischen Gastarbeiter -Themen, die noch immer durch Scham, Verleugnung und Verschweigen gekennzeichnet sind, – mit  großer Einfühlsamkeit und Respekt in den Blick der Öffentlichkeit zu bringen.

Laura Cwiertnia
Auf der Straße heißen wir anders
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Armenian Insights: „On the Street, We Have Different Names“ by Laura Cwiertnia
Laura Cwiertnia, a journalist for „Die Zeit,“ explores her own family history and the Armenian Genocide in her debut novel, „Auf der Straße heißen wir anders“ („On the Street, We Have Different Names“). The story revolves around the protagonist Karla, who bears similarities to the author herself. After the death of Karla’s grandmother Maryam, who was a guest worker from Istanbul, Karla discovers her family’s Armenian roots. She convinces her father, Ali, to accompany her on a journey to Armenia to unravel their family’s past. The narrative alternates between their experiences in present-day Armenia and flashbacks to Karla and Ali’s childhoods. Karla grows up in a bleak neighborhood in Bremen-Nord, where she escapes the monotonous and prejudiced environment through education. Ali, on the other hand, faces poverty in Istanbul and eventually joins his mother in Bremen as a taxi driver. Maryam’s life is marked by the trauma of the Armenian Genocide and her subsequent struggles as an illiterate worker in Germany. Through meticulous research and alternating perspectives, Cwiertnia reveals the silenced histories, shame, denial, and resilience of the Armenian community. The novel sheds light on the mechanisms of secrecy within families and explores the evolving relationship between Karla and Ali as they confront the painful past together. Cwiertnia’s debut skillfully brings the Armenian Genocide and the experiences of Armenian guest workers into the public eye with sensitivity and respect.

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