Nach den bahnbrechenden Monographien über Mozart und Wagner legt Ulrich Drüner nun eine Analyse von Ludwig van Beethoven vor. Stephan Reimertz weist in seiner Rezension auf die Vielschichtigkeit des aufwühlenden Buches hin.
Die meisten Erwachsenen von heute haben als Klavierschüler Maynard Solomons Beethoven-Monographie gelesen, welche seinerzeit mit großem Tamtam unter die Leute gebracht wurde, nicht zuletzt, weil wieder einmal jemand von sich behauptete, Beethovens »unsterbliche Geliebte« enttarnt zu haben. Prägender noch als dieses vermeintliche Outing sollte sich Solomons stilistische Einteilung von Beethovens Werk auswirken, in welcher er den Lebensphasen des Komponisten musikalische Stile zuordnete. So zweifelhaft die Zuordnung des Stilbegriffs auf die Musik überhaupt ist, so verführerisch und zugleich fatal machte sich Solomons Dilettieren in Psychologie und Psychoanalyse bemerkbar; darin wurde er nun noch von der Mozart-Monographie von Wolfgang Hildesheimer aus derselben Zeit übertroffen. Keines der beiden Büchern mag man heute wieder zur Hand nehmen, auch wenn beide Elaborate mit verführerischer, nachgerade belletristischer Formulierungskunst zu bestechen suchten. Als Musikant, Musikantiquar und Musikwissenschaftler zeigte sich dann allerdings Ulrich Drüner bestens gerüstet, die wild und dicht wabernden Nebel vorangegangener Generationen zu verscheuchen, zuletzt in seiner Wagner-Biographie, welche die verhängnisvollen Wirkung des pompösen Buches von Martin Gregor-Dellin in ihre Schranken wies und ein vielschichtiges, frisches Wagner-Bild gebar.
Dem Achilles ein achilleisches Schicksal
Bei Beethoven reißt der Innenmensch den Außenmenschen an sich, entwurzelt ihn aus dem natürlichen Leben, durchbebt und durchglüht ihn, bis er durch ihn hindurchscheint und ihn zuletzt ganz aufgezehrt hat. – Albert Schweitzer, J. S. Bach, S. 143
Es scheint kaum möglich, den Gehalt einer so komplexen Monographie wie Drüners neuem Werk in einer Rezension vollständig wiederzugeben. Der Autor schreibt die innere und äußere Biographie des Menschen und Tonsetzers, die Sozialgeschichte der römisch-deutschen, dann deutsch-österreichischen Haupt- und Residenzstadt im frühen neunzehnten Jahrhundert und die Musik- und Kulturgeschichte Europas in jenen Jahren, wobei der Blick außer Deutschland vor allem auch England gilt, das sich durch frühe Beethoven-Begeisterung auszeichnet. Er referiert Thesen aus der umfänglichen musikwissenschaftlichen Literatur, stellt jedoch mehr noch eigene Überlegungen zu den komplexen Formprinzipien und Entwicklungen innerhalb einer Musik an, die kaum auf den Nenner eines Epochenumbruchs allein zu bringen ist, und in der sich gegenläufige Funktionen unausgesetzt berühren und durchdringen. Bei Betrachtung des Spätwerks, insbesondere der letzten Streichquartette und der Großen Fuge op. 133, transzendiert der Autor seine Betrachtung ins Philosophische. Das Buch ist freilich auch eine Medizin- und Leidensgeschichte; es zeichnet all die Verheerungen nach, welche die früh einsetzende und immer radikaler fortschreitende Ertaubung für den Komponisten bedeutet hat. Exemplarisch bereiteten die Götter auch hier dem Achilles ein achilleisches Geschick, nicht dem Guten ein gutes. Drüner zeigt Beethovens enge Verflechtung mit der Gesellschaft seiner Zeit und weist nach, wie sehr der Künstler der anderen bedurfte, wenn er sich auch am Anfang gern als Menschenfeind gerierte und mit dem Grad seiner Taubheit immer mehr wie von Geisterhand aus der Gesellschaft gerückt wurde. Von seinen ebenso anschaulichen und profunden Monographien zu Mozart und Wagner unterscheidet sich Drüners Beethoven-Buch durch ein flackerndes inneres Element, etwas Aufgestörtes, und in der Tat erscheint es schwer, einem solchen Leben und Werk in aller Seelenruhe nachzugehen. »Konnte Beethoven angesichts seiner außerordentlichen Erfolge sein Leben ‚glücklich’ nennen«, fragt Drüner, »oder machte ‚die Qual eines solchen Lebens’ doch alles unerträglich?«
Zweifellos stellt Drüners Monographie in dem zurückliegenden Beethoven-Jahr den Königsweg zu dem Komponisten dar, zumal sie ohne Komplexitätsreduktion auch den Unvorbereiteten an eine künstlerische Arbeit heranführt, für welche der Begriff Jahrhundertwerk nachgerade untertrieben erscheint. Romanesk wiederum ist die Anlage des Buches. Der Autor rollt dem Leser einen Teppich über die Strudlhofstiege des österreichischen Hochadels aus. Aus den Namen, die man von den Widmungen der Werke kennt, Lichnowsky, Lobkowicz, Rasumowsky etc., scheinen faszinierende Gesichter hervor. Verdienstvoll ist besonders die Schilderung von Beethovens Freundschaft mit dem selbstlosen Erzherzog Rudolph. Nicht zuletzt stellt das Buch eine wertvolle Kulturgeschichte dar, welche daran erinnert, wie ohne das Kaiserhaus und den Hochadel Österreich nichts als ein Erdäpfelacker zwischen nackten Bergen wäre.
Ulrich Drüner
Die zwei Leben des Ludwig van Beethoven
Karl Blessing Verlag, München 2020
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