Stephan Reimertz erkundigt sich nach Robert Musil
Der Schriftsteller Robert Musil galt im Gespräch als anstrengend (so schreibt Hans Mayer), er selbst wollte seine Literatur als anmutig verstanden wissen (so schreibt er selbst). Schon sein Jugendroman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß von 1906 besticht durch einen ebenso einfühlsamen wie analytischen Stil, wie ihn die deutsche Literatur zuvor kaum kannte.
Generationen von Jugendlichen sind mit der seit 1952 von Adolf Frisé im Rowohlt Verlag herausgegebenen Dünndruckausgabe und den aus ihr gezogenen Taschenbüchern aufgewachsen. Nun erscheint im Salzburger Jung & Jung Verlag eine auf zwölf Bände geplante neue Gesamtausgabe, die bis zum Jahr 2022 vorliegen soll. In dem freundlichen Satz und großzügigen Spiegel der neuen Edition liest sich das Werk, als spräche ein alter Freund nach einer Zahnbegradigung die Muttersprache deutlicher und klarer. Es erfreut zudem, dass wir Musil weiterhin in bewährter Orthographie lesen dürfen.
Wer sich in die neue Edition vertieft, dem wird ein bisher unbekanntes Lesegefühl zuteil. Besonderen Wert erhält die Ausgabe in der Kombination mit dem Portal Musil Online in der das Werk als Hypertext präsentiert wird, ebenso wie alle Druckausgaben und Erstdrucke sowie zahlreiche Varianten. Die Ausgabe wird durch ein hochkarätiges wissenschaftliches Team an der Universität Klagenfurt unter der Beteiligung von Walter Fanta betreut. Fanta hat bereits zahlreiche Publikationen zu Robert Musil vorgelegt, wie z. B. eine Monographie über die Entstehungsgeschichte des Mannes ohne Eigenschaften (2000) oder über das Finale dieses komplexen und unvollendeten Romans (2015).
Feuilletonscout: Sollten wir uns mit Musils Biographie beschäftigen, um sein Werk besser zu verstehen, oder lenkt das nur ab?
Walter Fanta: Musils Biographie ist hochinteressant für jeden Literaturinteressierten, da sich in seinem Schriftstellerleben die Aufs-und-Abs einer kulturhistorisch entscheidenden Umbruchepoche spiegeln, die Zeit von ca. 1900 bis mitten in den Zweiten Weltkrieg. Aber man sollte nicht übertreiben und nicht im Privaten des Autors die Erklärung für die Geheimnisse seines Werks suchen, so wie es der Musil-Biograph Karl Corino zuweilen tut. Corinos Musil-Biographie ist natürlich dennoch unverzichtbar, jeder muss sie gelesen haben, und Corino selbst beschreibt an einer Stelle den Verwandlungsprozess von Leben in Literatur als Abstoßung „allzu grober biographischer Schlacken“.
Feuilletonscout: Schlägt die persönliche Situation Musils als Sohn eines geadelten Mitglieds der Funktionselite auf seinen Stil und seine literarische Haltung durch?
Walter Fanta: Ja, das tut sie allerdings. Musil war nicht nur Sohn eines Angehörigen der kakanischen Funktionärselite, wenn man so will, also durch und durch kakanisch sozialisiert, sondern er war zu einem Teil seines Wesens selbst kakanischer Bürokrat, als ausgebildeter Offizier, als Bibliothekar und Archivar, und als ministerieller Beamter. Die Art und Weise, wie er seine Texte schrieb, in seinem Nachlass mit mehr als hundertausend Querverweisen zur Verwaltung der eigenen Manuskripte dokumentiert, schlägt sich dies nieder. In seinem Stil – den langen Schachtelsätzen und barocken Wendungen – und auch in den Inhalten – etwa den Machinationen Ulrichs als Sekretär der Parallelaktion im Mann ohne Eigenschaften -, kommt das Bürokratische immer wieder zum Ausdruck. Claudio Magris hat die Bürokratieverliebtheit österreichischer Autoren zu Recht als ein Kennzeichen des habsburgischen Mythos in der österreichischen Literatur beschrieben, und er führt Musil als prominenten Zeugen dafür an.
Feuilletonscout: Was halten Sie von der Methode von Musils Biographen Karl Corino, literarischen Stoffe von Robert Musil in die Biographie zurückzuübersetzen, etwa im Falle der Erzählung Tonka?
Walter Fanta: Dort, wo externe Dokumente fehlen, rekonstruiert Corino die biographische Faktizität aus der literarischen Verarbeitung. Er übersieht dabei, dass bereits in der allerersten Niederschrift, in der Eintragung in ein sogenanntes Tagebuch (bei Musil nie ein ‚wirkliches‘ Tagebuch) der Autor die Wirklichkeit verändert haben kann, vor allem, wenn es sich nicht um Beobachtungen eines Unbeteiligten handelt, sondern um peinliche Eingeständnisse. Zum Beispiel das tragische, unglückliche Ende von Musils erster Geliebten Herma Dietz, von dem wir nur aus Musils schriftlichen Aufzeichnungen wissen. Wahrscheinlich ist sie aus Musils Verschulden an einem von einer Syphilis-Infektion ausgelösten Abortus zugrunde gegangen. Aber wir wissen nicht, wie es wirklich war, und werden es nie erfahren. Musils Skizze von der Todesszene trägt bereits den Geruch literarischer Verformung, er schreibt von Robert in der dritten Person. Was wir aber wissen und was wir haben, ist das Ergebnis des sich über viele Jahre (1907-1922) ziehenden literarischen Verarbeitungsprozesses: die Novelle Tonka, ein außergewöhnlich berührendes Schuldbekenntnis eines Mannes, der ein Frauenleben zerstört hat.
Feuilletonscout: Müsste man nicht, wenn man zeitgemäß sein will, Roland Barthes und Michel Foucault folgen, vom Tod des Autors ausgehen und sich auch im Falle Musils allein an den literarischen Text halten?
Walter Fanta: Barthes und Foucault sind nicht wörtlich zu verstehen, es handelt sich für mich um Plädoyers dafür, zum Wesentlichen, zum Text zurückzukehren. Wenn er im Stande ist, uns zu bewegen, uns zu verändern, dann ist er wesentlich. Wer wann, und wie, und warum, etwas geschrieben hat, ist im Grunde genommen egal. Die vorrangigste Aufgabe der Literaturwissenschaft besteht auch nicht darin, das zu erklären. Wenn wir den Text erst dann richtig verstehen können, wenn wir wissen, wie er mit der Biographie der Autorin oder des Autors zusammenhängt, dann ist der Text nicht viel wert. Ja, ich denke, dass ein Roman wie Mann ohne Eigenschaften Musils vor den Augen der Leser überleben wird, weil sich in ihm eine ganze Epoche spiegelt, mit ihren Krisen und Katastrophen, und wir bei unserer Lektüre unsere heutige Epoche mitlesen können, mit den uns drohenden Katastrophen. Angesichts dieses Werks mit diesem Anspruch tritt die Person des Autors in den Hintergrund. Musil selbst hat das so gesehen. Jede Art von Starrummel war ihm unangenehm. Er wollte als Mensch hinter seinem Werk so gut wie möglich unsichtbar bleiben. Wenn er in seinen Texten über sich geschrieben hat, dann hat er die biographische Wahrheit so um- und ausgestaltet, dass sie auch für alle seine Leser gilt. Er weigerte sich, so wie es jeder gute Autor tut, sein Werk selbst den Lesern zu erklären.
Feuilletonscout: Könnte man sagen, dass Musils Unfähigkeit, den Roman zu Ende zu führen, in der strukturellen Anlage des Romans selbst begründet liegt? Dass also Der Mann ohne Eigenschaften von Anfang an unvollendbar war? Inka Mülder-Bach schreibt in ihrer Musil-Monographie den kryptischen Satz: »Der Mann ohne Eigenschaften aber ist so konstruiert, daß seine Vollendung mit der unmöglichen Selbstaufhebung des Romans zusammenfiele.«
Walter Fanta: Ich halte diese Meinung für zu formelhaft. Inka Mülder-Bachs Buch über den Mann ohne Eigenschaften beginnt höchst interessant, es endet aber in einer schrecklichen Reduktion. Die Gründe dafür, dass Musil den Roman nicht vollendet hat, sind fürwahr nicht so simpel wie Mülder-Bach ihre Leserinnen und Leser das glauben machen will. Wenn es so wäre, wie sie behauptet, dass das Münden in eine Und-und-und-Endlosschleife dem Roman von seinem Eingang aus bereits eingeschrieben ist, dann hätte der Autor das wohl irgendwann bemerkt und die Konsequenzen gezogen. Das Finale des Mannes ohne Eigenschaften ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Einerseits gibt es tatsächlich konzeptionelle Gründe, die Musil dazu gebracht haben, den ursprünglichen Plan aufzugeben, andererseits wird Musils Unentschiedenheit von externen Faktoren wesentlich beeinflusst. Die größte Rolle, denke ich, spielte das Ende der Weimarer Republik und der Anbruch der Nazi-Diktatur in Deutschland 1933. In vielfältiger Weise fühlte sich Musil dadurch beim Weiter- und Fertigschreiben gehemmt. Erst 1938 war er soweit, eine Fortsetzung des Romans mit 20 Kapiteln des Zweiten Teils des Zweiten Buchs bei Bermann-Fischer in Druck zu geben. Doch dann kam der so genannte Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland, die Teilveröffentlichung kam nicht zu Stande, weil Bermann nach Stockholm flüchtete und Musil in die Schweiz emigieren musste. Musil schrieb in Zürich und Genf an dem Roman weiter, aber für ein imaginäres fern-zukünftiges Publikum.
Feuilletonscout: Viele Leser gehen davon aus, dass es sich bei den Protagonisten im Mann ohne Eigenschaften um Transformationen tatsächlich lebender Personen handelt. Steht dem nicht entgegen, dass es dem Autor darum ging, Symbol- und Ideenträger der Epoche zu bilden?
Walter Fanta: Es ging Musil im Mann ohne Eigenschaften tatsächlich nie um lebende Personen seiner Zeit oder in seiner Umgebung, die er in dem Roman hätte porträtieren wollen, nein, es ging ihm um eine Zeitdiagnose anhand von Ideenträgern und repräsentativen Typen in der Gesellschaft der Epoche, in der er lebte. Der Salzburger Germanist Norbert Christian Wolf hat in seiner großen Untersuchung Kakanien als Gesellschaftskonstruktion (Literaturgeschichte in Studien und Quellen) (Böhlau 2011) herausgearbeitet, dass Musil mit dem Mann ohne Eigenschaften eine Sozioanalyse im Sinne von Pierre Bourdieu betreibt. Die Figuren und ihre Interaktionen im Romangeschehen stellen das Ergebnis eines intellektuellen und zugleich künstlerischen Verarbeitungs- und Gestaltungsprozesses dar, als ein Text, der sich zur Wirklichkeit nicht wie ein einfaches Foto verhält, sondern wie ein höchst artifizielles Arrangement einer ganzen riesengroßen Ausstellung voller Fotomontagen. Als Begleitlektüre zu Musils Mann ohne Eigenschaften ist aus meiner Sicht weniger die Monographie von Mülder-Bach zu empfehlen, sondern mehr das Kakanien-Buch von Wolf oder das neue, von Birgit Nübel und Norbert Christian Wolf bei De Gruyter herausgegebene Robert-Musil-Handbuch (2016), wenngleich die hohen Anschaffungskosten ein großes Loch in die Brieftaschen der interessierten Leserinnen reißen werden. Wirklich Abhilfe schaffen wird der interdiskursive Kommentar auf Musil Online, der, am Robert-Musil-Institut in Klagenfurt entwickelt, in ein paar Jahren freien Zugang zu allen wichtigen Texterklärungen und Interpretationsmöglichkeiten zu Musils Werken bieten wird. Der Mann ohne Eigenschaften kann jetzt schon online und open access auf Musil online gelesen werden.
Feuilletonscout: Was kann ein Schriftsteller heute von Robert Musil lernen?
Walter Fanta: Eine gute Frage! Erstens, nicht für den schnellen Erfolg schreiben. Sich nicht den Marketingstrategien der Verlage und den falschen Erwartungen der Lesermassen unterwerfen. Denn als Autorin oder Autor verdient man am Schreiben auch dann noch zu wenig, wenn man sich anpasst. So wie Musil: das schreiben, was man als richtig erkannt hat, gedanklich und ästhetisch. Zweitens, nicht den Fehler begehen, sich mit seiner Person vor sein Werk zu stellen. Die Autorin, der Autor spricht nur durch ihren, seinen Text
Danke für das Gespräch, Walter Fanta!
Robert Musil
Mann ohne Eigenschaften (Gesamtausgabe)
Hrsg. Walter Fanta
Jung und Jung, Salzburg 2017
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