„Ein ungezähmtes Tier“: Spannend wie eine Netflix-Serie

Von Barbara Hoppe.

Manchmal wundert man sich über sich selbst. Dass man denkt, alles schon irgendwie gelesen zu haben. Und dann fällt einem ein Buch wie „Ein ungezähmtes Tier“ von Joël Dicker in die Hände und man wird geradezu eingesogen –von den Mechanismen eines gut konstruierten kriminalistischen Dramas. Aber nicht einem im altmodischen Stil. Sondern in einem, der wie eine Netflix-Serie daherkommt.

Das ungezähmte Tier im Glashaus

Schon das Setting erinnert an eine sorgfältig ausgestattete Hochglanz-Serie: Ein wunderschönes, schillerndes Ehepaar, Sophie und Arpad Braun, um die vierzig, mit zwei entzückenden Kindern, lebt in einem kubusartigen Glashaus im Wald in einem Villen-Vorort von Genf. Er ist ein erfolgreicher Banker, sie eine Anwältin, hergezogen sind sie von der Côte d’Azur, wo Sophies Vater mit einem Nobelrestaurant reich geworden ist. Wäre da nicht der Schandfleck einer Neubausiedlung, die die Villenbewohner abfällig „die Warze“ nennen. Mitten in dem noblen Vorort machen sich seitdem auch Normalbürger breit. Unter ihnen sind Karine und Greg. Sie arbeitet in einer Modeboutique gegenüber Sophies Anwaltskanzlei, er ist erfolgreicher Polizist in einem Spezialkommando. Und er ist fasziniert von Sophie. Seine Besessenheit geht soweit, dass er sie bis in ihre intimsten Bereiche ausspioniert. Aber auch Karine ist Sophies Charme erlegen. Keine Möglichkeit lässt sie aus, um ihre Freundschaft zu buhlen.

Zwischen Vergangenheit und Countdown – Eine raffinierte Erzählstruktur

Unter der nachbarschaftlichen Freundschaft brodelt es also gewaltig. Schließlich sind da noch Sophie und Arpad selbst, deren Vergangenheit tief in die Handlung hineinwirkt. In kunstvoll verwobenen Zeitebenen entfaltet sich ihre Geschichte. Sie wird in Rückblenden beleuchtet, während parallel dazu die verbleibenden Tage bis einem mysteriösen Raubüberfall heruntergezählt werden. Wer da wie die Hände im Spiel hat und was es mit dem geheimnisvollen Fremden auf sich hat, der Sophie ebenfalls beobachtet, irritiert nicht nur den Voyeur Greg, sondern spannt auch den Leser auf die Folter. Während Karine naiv in ihrer Vorstadtidylle mit den Reichen und Schönen Schritt zu halten versucht, manövriert sich ihr Mann immer mehr in die Abgründe von Betrug und Obsession, während gleichzeitig der Lack der Vorzeigefamilie Braun zu bröckeln beginnt. Diese Struktur erzeugt einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

Unerwartete Wendungen: Ein Thriller, der fesselt

Dabei versteht es Joël Dicker meisterhaft, die Spannung stetig zu steigern und unerwartete Wendungen einzubauen, die den Leser immer wieder überraschen. Gerade wenn man denkt, man habe die Geschichte durchschaut, zieht Dicker ein Ass aus dem Ärmel und lenkt den Plot in eine neue Richtung. Dies macht  „Ein ungezähmtes Tier“ zu einem echten Page Turner, den man kaum aus der Hand legen kann. Klug konstruiert und temporeich gelingt Joël Dicker eine perfekte Netflix-Serie fürs Kopfkino.

Joël Dicker
Ein ungezähmtes Tier
a.d. Französischen von Michaela Meßner und Amelie Thoma
Piper Verlag, München 2025
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‘An untamed beast“: As exciting as a Netflix series

Joël Dicker’s An Untamed Beast reads like a high-end Netflix thriller. At its core: the seemingly perfect couple, Sophie and Arpad Braun, living in a glass cube in Geneva. But their world is fragile. Their past and the obsession of policeman Greg shake their lives. As Greg spies on Sophie and his wife Karine naively seeks friendship, events spiral out of control.

The intricate narrative alternates between flashbacks and a countdown to a mysterious heist. Who is manipulating whom? What is Sophie hiding? And who is the stranger watching her?

Dicker masterfully heightens suspense with unexpected twists and fast-paced storytelling. Just when you think you have it all figured out, he changes the game. A real page-turner – and the perfect mental binge-watch.