Rezension von Birgit Koß.
Am 14. September 1789 wurde in Berlin Alexander von Humboldt geboren, der spätere Reisende, Naturforschende, politische Intellektuelle, Klimaforscher, Historiker, Kartograph und, und, und …
Die Reihe seiner Verdienste ließe sich unendlich fortsetzen, versetzt in Erstaunen und lässt einen ob der eigenen Beschränktheit beschämt zurück. Wirklich weltweit ist sein Name bekannt, aber wer hat tatsächlich etwas von Humboldt gelesen? Dabei hat er unermüdlich geschrieben. Nicht nur seine bekannten Bücher, sondern Aufsätze, Artikel und Essays, die eine einzigartige Verbreitung gefunden haben. Diese zu untersuchen haben sich die beiden Berner Wissenschaftler Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich zur Aufgabe gemacht. Und sie sind fündig geworden: aus 750 Medien an 250 Publikationsorten auf allen fünf Kontinenten. An die 800 Texte in 15 Sprachen zu 30 Disziplinen, vieles eine Überraschung für die beiden Germanisten. 95 Prozent dieser Schriften wurden nach Humboldts Tod nie wieder gedruckt. Was tun mit dem ganzen Material? Sie haben die Verlegerin Claudia Baumhövel für ein einzigartiges Projekt gewinnen können. Sämtliche Schriften Alexander von Humboldts erscheinen etwa einen Monat vor seinem Geburtstag in 10 aufwendig gestalteten Bänden. Eine Herausforderung sowohl für den Verlag als auch für die Leser. Doch wer vor den 12,7 kg gedruckten Buches zurückschreckt, hat die Möglichkeit mit „Der andere Kosmos“ , bereits im Frühjahr bei dtv erschienen, mit 70 Texten von 70 Orten aus 70 Jahren eine kleinen und doch schon umwerfenden Überblick auf 448 Seiten zu bekommen.
Briefe statt Blog
So finden wir hier Humboldts ersten Artikel aus dem Revolutionsjahr 1789, den er in französischer Sprache damals noch anonym an eine literarische Zeitung in Berlin sandte. Es ging um die Frage der Giftigkeit des Bohon-Upas Baums aus Indien. Humboldt befindet, nicht der Baum sei so giftig, dass in seiner Umgebung nichts wachsen könne, sondern die Umwelt des Baumes sei so karg und lebensfeindlich, dass sich ihr lediglich dieser Baum angepasst habe. Gleichzeitig bringt der junge Adelige hier bereits eines seiner Lebensthemen zum Ausdruck – die Kritik am Kolonialismus.
Das entscheidendste Ereignis im Leben Alexander von Humboldts war seine Reise nach Amerika – 1799 bis 1804. Lebenslänglich wertete er seine dortigen Beobachtungen aus. Aber auch von unterwegs schrieb er schon eifrig Reisebriefe an Freunde, Kollegen und Redaktionen in Europa und schuf damit sozusagen ein mobiles Medium der Reportage. So kam es, dass er bei seiner Rückkehr bereits ein berühmter Mann war. Diese Prominenz setzte er geschickt für seine politischen Ziele ein, wie Kritik an der Sklaverei, Solidaritätserklärungen für die Juden und er intervenierte sogar zugunsten des demokratischen Kandidaten im Präsidentschaftswahlkampf in den USA – wenn auch vergeblich. Neben den Reiseberichten veröffentlichte er auch wissenschaftliche Aufsätze und Essays. Auch Humboldts einziger fiktionaler Text in Form einer Erzählung „Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius“ ist in beiden Veröffentlichungen von dtv zu finden. 1795 erschien dieses literarische Debüt in der Zeitschrift „Horen“, die Friedrich Schiller herausgab, und machte Alexander von Humboldt über die wissenschaftlichen Kreise hinaus in Deutschland bekannt. Die Texte dieser Zeitschrift orientierten sich in ihrem feierlichen Ton und in den kunsthistorischen Ansichten an Autoren und Formen des Altertums. Doch wie im anderen Kosmos nachzulesen, ist Humboldts Erzählung vor allem inhaltlich bedeutend: „In philosophisch allegorischer Weise behandelt sie die ’Lebenskraft‘ als ein rätselhaftes Prinzip, das die organische von der anorganischen Welt, die belebte von der unbelebten Natur, die Lebewesen von der toten Materie unterscheidet. Diesem Prinzip der Vitalität war Humboldt aber nicht nur poetisch auf der Spur, sondern zugleich auch empirisch, ja geradezu schmerzhaft körperlich. Angeregt durch die Forschungen des italienischen Arztes und Naturforschers Luigi Galvani, unternahm er Selbstversuche, indem er sich Schnittwunden zufügte, um die physiologischen Reaktionen seines Körpers auf die Stimulation durch verschiedene Materialien zu beobachten. Mit diesem buchstäblich einschneidenden Experimenten hat Humboldt das Phänomen der Lebenskraft, das er in seiner Erzählung poetisch versinnbildlichte, wissenschaftlich entzaubert.“
Im
Original bei Humboldt liest sich das Folgendermaßen:
„So gieng die todte Materie von
Lebenskraft beseelt, durch eine zahllose Reihe von Geschlechtern, und derselbe
Stoff umhüllte vielleicht den göttlichen Geist des Pythagoras, im dem vormals
ein dürftiger Wurm im augenblicklichen Genusse sich seines Daseyns freute!“
Gelehrter statt Influencer
Stilistisch erweist sich Alexander von Humboldt als Meister der verschiedenen Genres; auch vor klaren Worten und beißender Kritik, beispielsweise an der Kirche schreckte er nicht zurück. Und auch gegen Zensur erhob er klar seine Stimme. So erschien sein Essay über die Insel Kuba, das 1826 zweibändig in Paris veröffentlicht wurde 1856 auch in New York. Allerdings wurde in dieser englischen Übersetzung auf eine ältere spanische zurückgegriffen und nicht auf das französische Original. Im Spanischen hatte man das ganze siebte Kapitel einfach weggelassen, in dem er den „Sklavenzustand der Antillen“ beklagte. Dieses Kapitel war in seinen Augen das wichtigstes des ganzen Buches. In einem Zeitungsartikel wehrte sich Alexander von Humboldt gegen diese Form der Zensur. Noch im selben Jahr wurde sein Protest über 30 Mal weltweit veröffentlich, unter anderem in Bombay, damals englische Kolonie.
Der letzte Text aus dem anderen Kosmos wurde weltweit am häufigsten nachgedruckt. Es ist der launige “Ruf um Hülfe“, den der fast Neunzigjährige am 20. März 1859 in verschiedenen Berliner Zeitungen veröffentlichen ließ. Darin bittet er, ihn in Ruhe zulassen mit Anfragen, Bitten um Autogramme, Meinungen und Unterstützung, damit er seine verbleibende Lebenszeit zur Weiterarbeit am „Kosmos“ verwenden könne. Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich fanden unter anderem Nachdrucke „in der kleinen dänischen Hafenstadt Nykobing Falster, im Siebenbürgischen Brasov in Rumänien, in Memphis, Tennessee und in Buffalo, New York. Auch dort war Humboldts Bitte um Ruhe offenbar notwendig – oder zumindest lesenswert. Insgesamt wurde der „Ruf um Hülfe“ mehr als 130 Mal veröffentlicht, ein spätes aber umso beredteres Zeugnis von Humboldts internationaler Bedeutung. Am 6. Mai 1859 erschien der Text in einer kleinen Halbwochenzeitung in Jackson, Mississippi: an dem Tag, als Alexander von Humboldt in Berlin verstarb.“
Sorgfältig ediert, mit genauen Quellenangaben versehen und einer ansprechenden Aufmachung, ist „Der andere Kosmos“ eine Fundgrube intelligenter Texte, die untern anderem zeigt, wie aktuell die Gedanken Alexander von Humboldts – beispielsweise zum Freihandel und zum Klimawandel – auch in der heutigen Zeit noch sind. Wer dann Lust auf Weiteres bekommen hat, der möge in die zehn Bände der Pionier-Edition eintauchen. Die Berner Ausgabe präsentiert in sieben Bänden für die sieben Publikationsjahrzehnte von 1789 bis 1859 sämtliche Erstveröffentlichungen, sowie Nachdrucke und deutsche Übersetzungen seiner Schriften. Die drei Ergänzungsbände enthalten Einführungen, Übersetzungen, Transversalkommentare, Register und Glossare. Zumindest für die Humboldtforschung tun sich hier ganz neue Möglichkeiten auf. Nicht zuletzt setzt der dtv Verlag mit dieser Edition ein Zeichen für seinen Glauben an das gedruckte Buch und gibt zwei Auflagen heraus – eine handnummerierte Vorzugsausgabe in 500 Exemplaren und eine Studienausgabe. Möge er dafür belohnt werden.
Alexander von Humboldt
Der andere Kosmos
70 Texte, 70 Orte, 70 Jahre 1789 – 1859
Hrsg. Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich,
dtv Verlag, München 2019
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Alexander
von Humboldt –sämtliche Schriften
Berner Ausgabe
Hrsg.: Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich
dtv Verlag, München 2019
Sämtliche Schriften (Handnummerierte Vorzugsausgabe im Schmuckschuber): Berner Ausgabe
Sämtliche Schriften (Studienausgabe)
Abbildungen © dtv Verlag
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Na, für Leser ist er ja nun wahrlich kein Unbekannter: spätestens seit Andrea Wulfs wunderbarer Biographie kennen ihn viele. Und früher: Goethes enthusiastisches Urteil über A. v. H. ist keine esoterische Spezialistenkenntnis.
Seine „Ansichten der Natur“ sind Pflichtlektüre für alle, die sich für diesen Planeten, die Literatur der Zeit und die Humboldts überhaupt interessieren – abseits sprach- oder naturwissenschaftlicher Fragen. Was für ein Kaliber der jüngere der beiden Brüder war, erfährt man eher im spanischsprachigen Südamerika, wo Städte, Schulen und viele Straßen nach ihm benannt wurden – wir haben dafür Bismarck-, Hohenzollern- und jede Menge Wilhelmstraßen.