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„Endspiel“ in Berlin: Ein Meisterwerk an der Staatsoper

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Bereits Kaspar Glarners geschicktes Bühnenbild macht die Neuinszenierung von »Endspiel« in der Regie von Johannes Erath zu einem Erlebnis. Alexander Soddy dirigiert eines der eigenwilligsten Werke der neueren Operngeschichte. Die Staatskapelle Berlin folgt ihm mit Verve und Subtilität. Von Stephan Reimertz.

Wer in die Staatsoper Unter den Linden geht, kommt bereits aus einer clownesken Umgebung, zumindest, wenn er in Berlin die Öffis benutzt. Mit der Fahrkarte erwirbt er zugleich die Eintrittskarte für eine Kabarettvorstellung. »Entschuldigen Sie bitte, fährt dieser Bus in die Innenstadt?« »Na, denn jehn Se doch raus und kieken Se, wat druff steht!« Die Berliner Verkehrsgesellschaft ist eine Art Lach- und Schießgesellschaft. Da hat es jede weitere Komödie schwer. Die Endzeit-Clownerie Fin de partie von Samuel Beckett, präsentiert von der Deutschen Staatsoper in der Vertonung von György Kurtág, kann indes durchaus mithalten.

Absurdes Theater trifft auf musikalische Innovation

Samuel Becketts Fin de partie, 1957 in England uraufgeführt, ist ein Paradebeispiel aus der Zeit des absurden Theaters. Es zeichnet ein Bild von einer dystopischen Welt, in der vier Figuren – Hamm, Clov, Nagg und Nell – in einem leeren Raum gefangen sind. Ihre körperlichen und psychischen Einschränkungen spiegeln die Fragilität und Vergänglichkeit des menschlichen Daseins wider. Isolation, Verfall, Sinnlosigkeit des Lebens, Machtstrukturen, Kommunikationsschwierigkeiten beherrschen die Szene. Die Atmosphäre ist düster, beklemmend, humorvoll höchstens in ihrer Absurdität. Die Herausforderung jeder Produktion dieses Stücks besteht darin, dass eine Situation, die auf der Stelle tritt, in einer Inszenierung umgesetzt werden muss, die nicht auf der Stelle tritt, Langweile so inszeniert, dass es nicht langweilig wird. Diese Herausforderung gilt auch für György Kurtágs Opernfassung von 2018, die sich eng an die theatralische Vorlage hält.

Die Bühne als Spiegel der menschlichen Existenz

Johannes Erath hat an der Deutschen Staatsoper Unter den Linden eine souveräne und starke Inszenierung auf die Bühne gestellt, die durch ihre Konzentration und zugleich durch Abwechslungsreichtum besticht. Wie Gefangene in einem Karton agieren die vier Sänger – Laurent Naouri, Bo Skovhus, Dalia Schaechter und Stephan Rügamer – und ermöglichen dem Zuschauer, in der aussichtslosen und unausweichlichen Posthistoire auf der Bühne eine Metapher des menschlichen Lebens zu sehen. Die überzeugende Disziplin der Inszenierung, der Verzicht auf billige Gegenwartsbezüge und andere Banalitäten ermöglicht es, das Werk in seiner existentiellen und metaphysischen Bedeutung ausloten zu können. Die Sänger tragen nicht allein als überzeugende Schauspieler dazu bei, sondern auch als schwindelerregende Interpreten eines höchst spezifischen Sprechgesangs, den der Komponist eng am Text Becketts entlang entfaltet. Becketts Sprache ist hier knapp und präzise, Wörter werden oft wiederholt, um eine Atmosphäre des Repetitiven und Stagnation zu erzeugen; all dies ist in subtiler musikalischer Entwicklung umgesetzt.

Kurtágs musikalische Interpretation von Beckett

Die deutsche Übersetzung Endspiel ist noch vor der englischen Selbstübersetzung Becketts erschienen und soll diese beeinflusst haben, sogar in der Wahl des Titels. Tatsächlich ist Endspiel oder endgame etwas anderes als fin de partie. Auch sagt Hamm 1957 in der bei Les édition de minuit erschienenen Originalausgabe: Foutez-moi le camp, retournez à vos partouzes !. Und im selben Jahr in der von Elmar Tophoven besorgten deutschen Übersetzung bei Suhrkamp: Haut ab, zurück zu euren Orgien! In Becketts eigener englischer Übersetzung ein Jahr später bei Grove Press wiederum: Out of my sight, and back to your petting parties! In der englischen Übersetzung ist der Sprecher offenbar etwas früher nach Hause gegangen…

Hier ist hohe Artistik gefordert, und sie wird vor allem durch ein einfallsreiches, sich stets weiterentwickelndes Bühnenbild von Kaspar Glarner eingelöst. Virtuos setzt er die Bühne auf der Bühne, das Spiel mit Rechteck vs. Kreis, Darsteller vs. Projektion um. Seine monoton sein sollende Welt ist höchst abwechslungsreich. (Aber wie haben sie es nur geschafft, das klapprige Riesenrad vom Leipziger Opernplatz, in dem ich noch am Vortag zitternd gefahren bin, über Nacht auf die Bühne der Staatsoper Berlin zu hieven?)

Der Komponist hat den Text in seiner originalen französischen Fassung verwendet und ihm eine musikalische Tiefe gegeben, die das Stück auf eine neue Ebene hebt. Eine Textverständlichkeit ist kaum vorhanden. Dies ist aber weniger die Schuld der Sänger. Kurtág komponiert gegen den natürlichen französischen Sprachfluss. Beim Mitlesen der englischen Obertitel fragt man sich, ob diese Becketts englischer Version des Stücks entstammen, oder ob es sich schlicht um eine Übersetzung handelt. Ein anderer Punkt, den die Staatsoper besser kommunizieren sollte, ist die Frage, wie im einzelnen die durchaus hörbare elektronische Verstärkung des Klanges angelegt ist. Man kann nicht einfach so tun, als gäbe es das in diesem Hause nicht.

Einzigartige Klangwelt

Die Oper folgt eng der Handlung und den Dialogen des Dramas. Kurtág unterstreicht durch seine Musik die psychologischen Abgründe der Figuren und intensiviert die Atmosphäre des Stücks. Die Musik ist äußerst expressiv und vielschichtig. Sie zeichnet sich durch eine große Dichte und eine präzise Instrumentierung aus. Dabei verwendet er oft Mikrointervalle und atonale Elemente, um die beklemmende Atmosphäre zu verstärken. Durch die Musik werden neue Aspekte der Figuren und ihrer Beziehungen offengelegt. Kurtágs Komposition ermöglicht eine tiefere Auseinandersetzung mit den existenzphilosophischen Fragen, die Beckett in seinem Stück aufwirft. Die Musik in dieser Oper verstärkt auch die emotionale Intensität und die düstere Atmosphäre des Stücks. Sie bietet dem Publikum eine zusätzliche Ebene der Interpretation und des Erlebens.

Die Macht der Stille

Sowohl Becketts als auch Kurtágs Version sind Werke, die sich mit den fundamentalen Fragen des menschlichen Daseins auseinandersetzen. Während Beckett eine sprachliche Collage geschaffen hat, die durch Präzision und Knappheit besticht, hat Kurtág mit seiner Oper eine musikalische Tiefendimension hinzugefügt, die die existenzielle Bedrückung der Figuren noch intensiver erlebbar macht. Beide Werke sind wichtige Beiträge zur modernen Kunst und laden dazu ein, über die Sinnhaftigkeit des Lebens und die Bedingungen der menschlichen Existenz nachzudenken.

Kapellmeister Alexander Soddy und die Staatskapelle Berlin realisieren virtuos diese ungewöhnliche, herausfordernde Tonsprache, die motiviert ist von einer extremen Reduktion auf das Wesentliche, was den Charakter des Stücks als existenzialistisches Drama auf musikalischer Ebene verstärkt. Hier tritt Kurtág fast durchgehend mit kammermusikalischer Feinheit hervor. Er nutzt Pausen und Stille als essenzielle Bestandteil seiner Tonsprache. Diese Momente des Schweigens wirken wie ein eigenes musikalisches Element, in dem sich Raum für Reflexion und Spannung auftut. Im Vergleich dazu setzen Komponisten wie Hans Werner Henze oder Wolfgang Rihm oft üppige, farbige Klangflächen ein, die expressive Dramatik aufwirbeln. Kurtág hingegen zieht sich in den Mikrokosmos zurück – um den Titel eines Klavierhefts seines Landsmanns Béla Bártok aufzugreifen – und findet so zu einer skizzenhaften musikdramatischen Wirkung. Man könnte von einer aphoristischen oder Impulsmusik sprechen, von musikalischen Scholien.

Kurtágs Stil im Kontext der zeitgenössischen Musik

Sein Ausdruck ist stark fragmentiert und verzichtet auf ausgedehnte melodische Bögen. Jede Note, jedes Intervall ist genau platziert und oft von symbolischer Bedeutung. Im Gegensatz dazu neigen Komponisten wie Alban Berg (Wozzeck, Lulu) zu einem dichten, vollorchestralen, oft spätromantisch inspirierten Ausdruck, in dem Atonalität und expressive Chromatik zu einem narrativen Fluss verschmelzen. Auch Aribert Reimann, etwa in Lear, verwendet ausgedehnte Linien und eine größere harmonische Vielfalt, um dramatische Intensität zu erzeugen. Kurtág hingegen bleibt nüchtern und minimalistisch.

In Fin de partie demonstriert der Komponist eine einzigartige Sensibilität für die Sprachrhythmen und die prosodische Struktur von Becketts Text. Seine Musik scheint oft direkt aus den Worten geboren zu sein, wobei Deklamation und musikalischer Ausdruck nahezu untrennbar sind. Aribert Reimanns Werke sind ebenfalls stark vom Text diktiert, jedoch durchzogen von einer komplexeren, polyphonen Stimmführung. Kurtágs Fokus liegt auf der Reduktion, was seine Vertonung fast spröde wirken lässt, ohne jedoch an Intensität zu verlieren.

Ein bemerkenswertes Merkmal von Kurtágs Musik ist ihre psychologische Tiefe, die durch ihre scheinbare Einfachheit umso stärker hervortritt. Seine Klänge wirken oft introspektiv, kontemplativ und geradezu meditativ. Leoš Janáček, ein Komponist mit ähnlich dichtem Sprachbezug, erreicht psychologische Wirkung durch die Nachbildung von Sprachmelodien und rhythmischen Gesten, man denke nur an das Schlaue Füchslein. Doch während er eine volksliedhafte Direktheit wahrt, gibt sich Kurtág abstrakter und schafft eine Atmosphäre existentieller Kargheit. Komponisten wie Henze und Rihm tendieren dazu, Emotionen durch üppige, oft orchestral weitausholende Klangwelten darzustellen. Kurtág verzichtet in seiner bisher einzigen Oper auf solche Fülle und arbeitet stattdessen mit kleinen Gesten, flüchtigen Klangfarben und einer fast schon asketischen Instrumentation. Diese Reduktion erinnert an Anton Weberns Klangsprache, weist jedoch stärkeren Fokus auf die Verbindung von Musik und Text auf. Wo Henze, Reimann oder Rihm durch orchestrale Vielfalt und dramatische Wucht beeindrucken, erschafft Kurtág eine zerbrechliche Klangwelt, in der jede Note und jede Pause von existentieller Bedeutung ist.

Ein Meisterwerk der zeitgenössischen Oper

Im Kontext der Operngeschichte wirkt sein Ansatz wie eine Antwort auf die Frage, wie viel musikalischer Ausdruck notwendig sei, um die tiefsten Schichten des Menschlichen zu berühren. Seine Tonsprache ist so eindringlich wie flüchtig, ein musikalisches Äquivalent zu Becketts abgefressener Theaterwelt. Wer sich daran erinnert, wie das sinnige Sinnlosigkeitstheater aus der Zeit des schwarzen Rollkragenpullovers bis weit in die Siebziger Jahre hinein bis in jeden Fernsehkrimi ausstrahlte, dem gibt diese vorbildliche Inszenierung Gelegenheit zu staunen, auf welch neues Niveau György Kurtág es in seiner Oper zu heben vermochte.

Weitere Aufführungen am 31. Januar und 2. Februar 2025

Staatsoper Unter den Linden
Unter den Linden 7
10117 Berlin

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‘Endgame’ in Berlin: A masterpiece at the State Opera

Samuel Beckett’s bleak play „Endgame“ is brought to life in an intense and haunting production at the Berlin State Opera, directed by Johannes Erath. The minimalist stage and the powerful music of György Kurtág create an atmosphere of isolation and despair that deeply affects the audience.

The singers deliver convincing performances, embodying Beckett’s complex characters with empathy. Kurtág’s music, closely linked to the text, underscores the psychological depths of the characters and intensifies the atmospheric density of the play. Through reduction to the essentials and the use of dissonant sounds, Kurtág creates a unique soundscape that mirrors the existential emptiness of the play.

The production is a masterpiece of contemporary opera and invites the audience to contemplate the fundamental questions of human existence. The combination of Beckett’s linguistic precision and Kurtág’s musical intensity creates an unforgettable experience.

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