Was treibt uns an, wenn wir nach Liebe suchen? Ist romantische Sehnsucht eine Notwendigkeit – oder doch eher eine Sucht? Sarah Kanes Stück Gier stellt radikale Fragen über Liebe, Schmerz und menschliche Abhängigkeiten. Die aktuelle Inszenierung am Deutschen Theater geht noch einen Schritt weiter und macht das Publikum zum Teil eines emotionalen Experiments. Wie das funktioniert, welche Herausforderungen es mit sich brachte und warum Gier trotz all seiner Schwere auch komisch sein kann, darüber spricht Dramaturg Moritz Frischkorn im Gespräch mit dem Feuilletonscout.
Die Fragen stellte Barbara Hoppe.
Romantik in unserer Zeit
Feuilletonscout: Im Ankündigungstext zu GIER geht es viel um Romantik und Liebe. Was meinen Sie: Welche Rolle spielt die Romantik noch in unserer heutigen Welt?
Moritz Frischkorn: Romantische Liebe gehört zur Grundausstattung unserer modernen Welt. Sie ist zugleich Heilmittel und Gift: Liebe (für Partner*innen, für die Familie, für Freund*innen und Gemeinschaften) ist eine gelebte Praxis, die wir in einer Welt, die auseinanderzubrechen und in Kriegen und Konflikten unterzugehen droht, unbedingt brauchen. Gleichzeitig haben viele Menschen das Gefühl, in ihren Liebes- bzw. Paarbeziehungen zu scheitern, weil sie unerreichbaren Idealen hinterhereilen und weil persönliche Traumata und gesellschaftlichen Gewaltstrukturen von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Das meint Sarah Kane, wenn sie schreibt: „Nur Liebe kann mich retten, und Liebe hat mich zerstört.“
Feuilletonscout: Kann Romantik süchtig machen? Oder die Suche danach? Und was hat Gier (oder Sehnsucht?) damit zu tun?
Moritz Frischkorn: Die Suche nach romantischer Liebe wird von Kane als ungesunde Sucht dargestellt: Wir suchen die unbedingte Nähe unsere Liebespartner*innen, wiederholen dabei aber patriarchale, toxische Beziehungsmuster. Die Gier nach Nähe, Anerkennung und Verschmelzung funktioniert wie andere Suchtmittel auch: Wir wollen unbedingt mehr davon. Der Wunsch, sich mit anderen Menschen in intensiven Liebesbeziehungen zu verbinden, ist eben ein menschliches Grundbedürfnis. Ich kann diese Sucht gut verstehen: Es gibt nichts Schöneres, als sich tief geliebt zu fühlen. Der englische Originaltitel heißt „Crave“ – darin steckt auch eine Bedeutungskomponente von Bedürftigkeit und Not. Offen bleibt, wie wir diese gegenseitige Not befriedigen können.
Sehnsucht, Gier und die Sucht nach Liebe
Feuilletonscout: In Sarah Kanes Text geht es um Beziehungs- und Gewaltverhältnisse, auch um das, was heute gern als „toxisch“ bezeichnet wird. Was fasziniert Sie an dem Stück „Gier“ von Sarah Kane?
Moritz Frischkorn: Obwohl der Text von Kane tiefen Schmerzen und großem menschlichen Leid im Angesicht von toxischen Beziehungsverhältnissen, Depression und sexualisierter Gewalt Ausdruck verleiht, ist er zugleich großzügig und von großer Klarheit und Schönheit. Dabei spielt die Form des Stücks eine wichtige Rolle: „Gier“ ist ein dichter, poetischer Text, in dem die Grenze zwischen einzelnen Figuren, d.h. zwischen Individuum und kollektivem Bewusstsein ständig verschwimmen. Dadurch lädt uns das Stück ein, unsere eigenen Erfahrungen mit dem Dramentext und den darin zum Ausdruck gebrachten Gefühlen abzugleichen. Wir werden Teil des kollektiven Bewusstseins, bzw. können uns darin wiederfinden. Es geht also nicht bloß um unsere je eigene Erfahrung von Liebesleid, von Gewalt und tiefer Trauer, es geht auch um die Gemeinsamkeit, dass wir alle in unserem schmerzlichen, heftigen, oft unerfüllten Wunsch nach Anerkennung und Gehaltensein einander ähneln.
Warum Gier heute noch so fasziniert
Feuilletonscout: Zur Inszenierung: Statt den Text „nur“ von vier Schauspielern sprechen zu lassen, gibt es in der Inszenierung, die nun am Deutschen Theater zu sehen ist, eine fünfte Schauspielerin, die auf das Gesprochene reagiert. Was macht den Reiz dieser Inszenierung aus?
Moritz Frischkorn: In der Inszenierung hören wir einerseits den Text des Stücks, der von vier Schauspieler*innen (Maja Beckmann, Benjamin Lillie, Sasha Melroch und Steven Sowah) gesprochen wird. Zugleich können wir die Schauspielerin Wiebke Mollenhauer, die auf der Bühne sitzt, deren Gesicht abgefilmt und auf einer großen Leinwand projiziert wird, dabei beobachten, wie sie auf den Text reagiert. Das Gesicht von Wiebke Mollenhauer wird dabei zu einer Art Verstärker, der die Spiegelneuronen des Publikums aktiviert: Indem es mit Wiebke Mollenhauer mitfühlt, kann sich das Publikum emotional für den Text des Theaterstücks immer weiter öffnen. Wir hören, sehen und fühlen also den Text gleichzeitig. Dadurch tritt der Text, so zumindest meine Erfahrung mit der Inszenierung, uns fast unerträglich nah.
Die besondere Inszenierung am Deutschen Theater
Feuilletonscout: Das Deutsche Theater beschreibt die Darstellung im Vorschautext als „Versuchsanordnung“. Was ist in der Inszenierung der Versuch?
Moritz Frischkorn: Innerhalb der Inszenierung stellen sich zwei miteinander verbundene Fragen: Wie lange gelingt es Wiebke Mollenhauer sich der emotionalen Wucht des Textes auszusetzen, ohne ein Wort zu sagen? Und wann, wenn überhaupt, kann sie sich aus ihrer Rolle als stumme Zuhörerin oder Zeugin befreien, und was passiert dann? Auf der Ebene des Publikums eröffnet sich eine weitere experimentelle Ebene: Nehmen wir die Schauspieler*innen, die den Text sprechen, als Figuren wahr, oder sind sie eigentlich Stimmen im Kopf der fünften Schauspielerin, also im Kopf von Wiebke Mollenhauer? Schließlich können wir uns fragen: Ist die stumme Zuhörerin, die Wiebke Mollenhauer verkörpert, ein Opfer oder steuert sie die theatrale Versuchsanordnung insgeheim selbst?
Feuilletonscout: Gab es bei der Vorbereitung und Probe des Stücks besondere Herausforderungen oder etwas, was Sie bzw. die Schauspielerinnen und Schauspieler noch nie gemacht oder erlebt haben?
Moritz Frischkorn: Weil der Text eine besondere emotionale Wucht hat, haben wir als Team (Schauspieler*innen, Regie, Musik, Bühne, Kostüm, Dramaturgie, usw.) die Proben manchmal als belastend erlebt. Zugleich haben wir viel miteinander gelacht. Denn auch das ist eine Qualität, die der Text von „Gier“ für uns bereithält: Er ist richtig lustig. Gleichzeitig haben wir innerhalb der Proben nach einer bestimmten Musikalität des Textes gesucht: Er funktioniert wie ein Streichquartett, in dem sich vier Instrumente miteinander verbinden und gemeinsam musizieren. Wir mussten erstmal herausfinden, wie dieser Text so gesprochen werden kann, dass er wirklich zu einem Musikstück wird.
Theater-Experiment mit starker Wirkung
Feuilletonscout: Die Inszenierung von „Gier“ ist preisgekrönt. Gibt es Reaktionen – evtl. auch vom Publikum –, die Sie besonders überrascht oder berührt haben?
Moritz Frischkorn: In den Publikumsgesprächen, die wir in Zürich nach den Vorstellungen geführt haben, konnte ich immer wieder eine besondere Dankbarkeit für das Ensemble auf der Bühne spüren. Menschen im Publikum, so mein Eindruck, waren bei dieser Inszenierung besonders dankbar dafür, dass die fünf Schauspieler*innen es auf sich genommen haben, den Text zu intonieren, zu verkörpern, zu empfangen und damit seine emotionale Tiefe verfügbar zu machen. Mir gefällt, dass diese Form der geteilten Emotionalität zwischen Bühne und Publikum etwas ist, was sich in dieser Form nur im Theater erleben lässt: Wiebke Mollenhauer reagiert im Moment der Aufführung immer wieder neu und immer wieder anders auf den Text. Dabei zuzuschauen ist auf besondere Weise schmerzhaft und befreiend zugleich, wie ein heftiger Heulkrampf oder ein Bad im eiskalten Wasser. Und das kommt bei unserem Publikum an, so mein Gefühl.
Vielen Dank für das Gespräch, Moritz Frischkorn!
GIER
Deutsch von Marius von Mayenburg
von Sarah Kane | Regie: Christopher Rüping
Mit: Benjamin Lillie, Maja Beckmann, Sasha Melroch, Wiebke Mollenhauer, Steven Sowah
Live-Musik Christoph Hart; Streichtrio Jonathan Heck, Polina Niederhauser, Coen Strouken
Bühnenbild: Jonathan Mertz
Kostümbild: Lene Schwind
Musik: Christoph Hart
Premiere in Zürich am 4. März 2023, Pfauen
Premiere am Deutschen Theater Berlin: 15. Februar 2025, 20 – 22 Uhr
16. Februar 2025, 19.30 – 21.30 Uhr
26. Februar 2025, 19.30 – 21.30 Uhr
Deutsches Theater Berlin
Schumannstraße 13a
10117 Berlin
„Crave“ at the Deutsches Theater: Choreographed power of language
Romantic love is essential but often unattainable. Sarah Kane’s Crave portrays love as both cure and poison—a fundamental human need that can easily turn into addiction. The craving for closeness and validation often leads to toxic patterns passed down through generations.
The production at the Deutsches Theater employs a unique concept: While four actors deliver the text, Wiebke Mollenhauer reacts live. Her projected face becomes a mirror of emotions, amplifying the play’s impact.
What makes Crave special is its form—a poetic, musical text that blends individual and collective experiences. The production raises questions: Is the silent listener a victim or in control? How long can she endure the emotional intensity?
Audiences experience the performance intensely, often painfully—an emotional experiment that is also liberating. The ensemble’s dedication is deeply appreciated, making Kane’s complex text tangible. Crave is theater that moves—balancing pain, humor, and radical honesty.