Nach langen Monaten der Restaurierung feiern die Münchner die Rückkehr eines ihrer Lieblingsgemälde in die kleine, aber hochkarätige Abteilung der französischen Malerei des XVIII. Jahrhunderts. Doch wer war die geheimnisvolle Schöne, die sich nackt in ebenso nichts- wie vielsagender Pose auf der Couch präsentiert? Gedanken zum Gemälde von François Boucher von Stephan Reimertz.
Tranceartiges Nachmittagslicht über den Grasnaben an Schwabinger Straßen, fliegende Zuckerwatte unterm lackblauen Bayernhimmel, all die Unwahrscheinlichkeit, mit der sich die Ruinen doch noch zwischen sterilen Häuserblocks herausräkeln, der Schmerz, wenn der Schmerz vergeht: Jenes angenehme Ziehen tiefer Erleichterung, wenn man in München ankommt und den Hauptbahnhof hinter sich hat – steht es irgendwo im Grundgesetz, dass deutsche Bahnhöfe und ihre Umgebung um jeden Preis versifft zu sein haben? – und in die blendenden Straßen der Metropole tritt… Was heißt schon Realität? Das Entscheidende ist, dass man über die Vorstellungskraft verfügt, die Dinge so zu arrangieren, dass die vielversprechend sind, dass sie sich zu ihrem besten entwickeln, uns entgegenkommen und halten, was sie versprachen.
Regisseurin nicht nur des kleinen und großen höfischen Lebens von Versailles, sondern Gestalterin eines ganzen Landes, ja Arrangeurin einer Epoche: Das war jene Jeanne Antoinette Poisson, die unter dem Namen einer Marquise de Pompadour ihrem Zeitalters nicht weniger Stempel und Namen aufgedrückt hat als ihr Gegenspieler und Bewunderer Voltaire. In ihrem kurzen Leben hat sich die geborene Pariserin als soziale Aufsteigerin, Maîtresse, Diplomatin und Politikerin, schließlich neben Zarin Katharina als mächtigste Frau ihrer Zeit total verausgabt.

Marquise de Pompadour auf dem repräsentativen Gemälde von Boucher aus dem Jahre 1756 / Foto: Stephan Reimertz
Hier sehen Sie das berühmte repräsentative Gemälde der Marquise, das François Boucher 1756 von ihr gemalt hat. Es hängt – nein, nicht im Louvre, sondern in der Münchner Pinakothek; jetzt ihrer kleinen Konkurrentin um die Gunst des Königs genau gegenüber. Ihre Gestalt verkörpert die Epoche, in der Werner Sombart den Ursprung des Kapitalismus verortet; und zwar als Ökonomie der Verschwendung. Der Kapitalismus sei aus den Manufakturen entstanden, in der die großen Herren der Zeit Luxusgüter für ihre Maîtressen herstellen ließen, behauptete der Vater Nicolaus Sombarts. Max Webers Theorie widersprach Sombart d. Ä.: Der Kapitalismus sei vielmehr entstanden, indem protestantische Unternehmer den Gewinn ihrer Firmen in diese reinvestierten, anstatt sie für einen luxuriösen Lebensstil auszugeben. Welche der beiden Theorien ist Ihnen sympathischer?
Wenn mir in einem Lokal Alkohol vorenthalten wird, frage ich: »Ist das nun islamistischer oder amerikanischer Fundamentalismus?« Ähnlich war meine Reaktion, als ich vor ein paar Monaten in der Alten Pinakothek in München auf einen leeren Platz an der Wand starrte anstatt auf mein Lieblingsbild, soweit die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen reichen: Das Ruhende Mädchen von François Boucher war verschwunden! Ich weiß, Sie sind gebildet und kultiviert, Sie nennen auf die Frage, welches Ihr Lieblingsbild in der Pinakothek sei, Dürers Selbstporträt im Pelzrock von 1500 oder Tizians Dornenkrönung Christi von 1570.
Aber ich bin nun einmal ein einfacher Mann mit simplen Vorlieben. Die Frage an den Wärter, ob es eine islamistische oder eine amerikanische Furie des Verschwindens war, die das entzückende Geschöpf verschlungen habe, konnte er nicht beantworten, aber sie schien nur allzu berechtigt. Deutschland knickt traditionsgemäß in fanatischer Selbstverleugnung vor jedwedem Fundamentalismus umso schneller ein, je extremistischer dieser daherkommt. Ob nun der Prophet oder Judith Butler anordnet, dass wir alle nur noch als streng verhüllte Figuren gesetzt und ernst einherlaufen dürfen: Das neue sterile Deutschland ist ein trauriges. All dieses Nicht-Trinken, Nicht-Höflichsein, Nicht-in-den-Mantel-Helfen, Nicht-Berühren, Nicht-Küssen, Nicht-Lieben, auf das diese aus Nazis und Achtundsechzigern hervorgegangenen technokratischen und ideologischen Neudeutschen sich schlechterdings auch noch etwas zugutehalten, schmält ihre Lebensfreude so lange, bis nichts mehr übrig ist. Dem widerspricht die französische Malerei des XVIII. Jahrhunderts, und besonders unser Ruhendes Mädchen. »Der Mensch«, so schreibt Ernst Jünger »ist ein Wesen, das von Natur aus lacht und singt und das Glück im Dasein genießen kann, wie die Pflanze die Sonne genießt. Im Maße, in dem das Leben künstlich, die Nahrung verfälscht wird und die Sitten verflachen, verbreitet sich die Traurigkeit.«
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Von klein auf nährte ich so ein bestimmtes Lebensgefühl. Ich konnte nicht genau sagen, was es war und wusste zugleich genau, was dazu passte und was nicht. Erst mit zehn Jahren erlebte ich mein vollständiges Coming-out: »Ich bin Monarchist!« Das war es also. Im Laufe des Lebens hat es sich ständig modifiziert, das Grundgefühl ist es geblieben. Heute als erwachsener Mann genieße ich den Vorteil, meine Neigung mithilfe der politischen Theorie begründen zu können. Insbesondere ist mir das XVIII. Jahrhundert sympathisch, seine Atmosphäre, seine Galanterie, sein Stil. Ein wunderbarer Ausdruck von dem, was ich meine, ist in jenem Wort von Talleyrand festgehalten, das bisweilen auch Chateaubriand oder Oscar Wilde zugeschrieben wird: Ceux qui n’ont pas connu l’ancien régime ne pourront jamais savoir ce qu’était la douceur de vivre.
Wir brauchen solche Herrscher wie Herzog Christian IV. von Pfalz-Zweibrücken (1722–1775) und keinen Ministerpräsidenten, der verkrampft versucht, dem vulgären Geschmack zu schmeicheln, indem er in einen Hamburger beißt. Ein solcher Anblick erinnert mich daran, dass ich mich schon im XX. Jahrhundert irgendwie deplatziert gefühlt habe. Die links und rechts heruntertropfende Tomatensoße tritt an die Stelle der Königssalbung. Die Pinakothek wiederum biedert sich beim herunteramerikanisierten Pop-Publikum mit dem Veranstaltungstitel »All Eyes On« an. Das ist fast so unappetitlich wie die Tomatensoße des Herrn Söder.
Nun schauen wir dem Kontrast zuliebe ins XVIII. Jahrhundert: Herzog Christian war einer der Herrscher, die das Galante Zeitalter perfekt verkörperten. Er verkehrte nicht nur mit Diderot und den Enzyklopädisten, er ging auch im Atelier von François Boucher ein und aus. Ob er Marie-Louise O’Murphy dort begegnet ist? Sie war vierzehn Jahre alt, als sie François Boucher Modell stand, oder, man muss wohl besser sagen: Modell lag. Die Kunsthistorikerin Frau Dr. Hipp von den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen fasst zusammen, wie das Bild überhaupt nach München kam: »Sicher ist lediglich, dass das Gemälde 1799 nach München gelangte. Hier wurde das Ruhende Mädchen bald in der Hofgartengalerie präsentiert; dies belegt der von Mannlich verfasste Katalog von 1805. Mit der Eröffnung der neu erbauten Pinakothek 1836 wanderte das Gemälde zunächst nach Schleißheim, wo es in der öffentlich zugänglichen Schlossgalerie zu sehen war, wie nicht zuletzt den gedruckten Schleißheimer Katalogen zu entnehmen ist.1909/10, als die Alte Pinakothek unter Direktor Hugo von Tschudi grundlegend neu eingerichtet wurde, wurde das Bild aus Schleißheim in deren Säle zurückgeführt.«
Marie-Louise O’Murphy: Die bekannteste Irin von Bayern – nach Lola Montez
In einer Zeit, da Museen sich mehr und mehr dem Spektakel und der erzieherischen Selbstverkleinerung ausliefern, verdient jede Geste der stillen Rückkehr, des tastenden Fragens nach der Bedeutung eines Bildes, besondere Aufmerksamkeit. Die kleine Ausstellung zur Neuaufhängung von François Bouchers Ruhendem Mädchen in der Alten Pinakothek ist kein Ereignis im kulturindustriellen Sinne, aber ein Moment der Wahrheit. Das Bild war einige Monate verschwunden, eine Restaurierung wurde vorgenommen, wie es hieß. Das klingt nach handwerklicher Notwendigkeit, nach Reinigung, nach konservatorischem Eingriff. Aber in Wahrheit hat sich in dieser zeitweiligen Abwesenheit eine Frage gestellt, die über das Konkrete hinausgeht: Was heißt es, dass ein Bild wiederkehrt. Und was heißt es, dass wir es wiedersehen?
Die Ideologie der Oberfläche
Boucher war kein Revolutionär. Er hat das Rokoko nicht erschaffen, er hat es verkörpert: in seiner Verfeinerung, seiner Sinnlichkeit, seiner Künstlichkeit. Aber gerade darin liegt seine Wahrheit: in der radikalen Setzung des Schönen als Form des Weltentzugs. Das Ruhende Mädchen – halb entkleidet, halb träumend, hingestreckt auf einem Sofa, das zugleich Möbel und Bühne ist – zeigt nicht eine Frau, sondern ein Arrangement des Begehrens. Es ist kein Porträt, sondern ein Tableau. Keine Realität, sondern eine Chiffre. Die Restaurierung hat – das sei ausdrücklich gelobt – diesem Bild seine malerische Stofflichkeit zurückgegeben. Die Farben vibrieren, der Flaum des Kissens, das Rosa des Wangenrots, das Licht auf dem Nacken – alles leuchtet wieder. Aber: Die Oberfläche ist nicht neutral. Sie ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Zustands. Und wer glaubt, Boucher sei harmlos, hat ihn nicht verstanden.


Die Dialektik des Begehrens
Denn in der scheinbaren Harmlosigkeit dieses Mädchens liegt eine doppelte Bewegung: die Verfügbarkeit und die Abwesenheit. Das Mädchen ruht, aber es ist auch ausgestellt. Es schläft, aber es wird gesehen. Es zeigt sich, aber entzieht sich zugleich dem Zugriff.
Diese Dialektik des Begehrens ist keine private. Sie ist ästhetisch und politisch. Sie führt zurück zur Frage: Was tun Bilder mit uns? Und was tun wir mit Bildern? Die kleine Ausstellung, die das Werk nun neu gerahmt zeigt – in einem Raum, der zur Betrachtung zwingt, zur Langsamkeit, zum Verweilen –, bricht die Konsumierbarkeit auf. Sie lädt nicht ein, sie fordert heraus. Der Blick des Betrachters wird nicht bestätigt, er wird reflektiert.

Das Verschwinden und die Wiederkehr
Dass das Bild einige Monate verschwunden war, ist nicht bloß eine museale Notiz. Es ist eine Erfahrung. Die Erfahrung, dass selbst die Kunst nicht selbstverständlich ist. Dass sie verschwinden kann. Dass sie nicht immer verfügbar ist. Und dass das, was wiederkehrt, nicht dasselbe ist wie das, was verschwand. Das Ruhende Mädchen ist nun wieder da, aber es ist ein anderes. Nicht, weil der Restaurator es verändert hätte, sondern weil die Zeit es verändert hat. Und uns. Die Welt, die es betrachtete, ist eine andere geworden: prüder, gereizter, polarisiert. In dieser Welt wirkt das Bild wie ein Echo aus einer anderen Zeit; nicht im Sinne bloßer Nostalgie, sondern als Andeutung eines verlorenen Registers der Erfahrung: jenes des Spiels, der Verführung, der Form.
Der Ort der Kunst im XXI. Jahrhundert
Was ist heute beunruhigender als Schönheit ohne Entschuldigung? Das Ruhende Mädchen stellt die Frage nach dem legitimen Bild, nach dem legitimen Blick. Und es tut dies, ohne Theorie, ohne Verteidigung, allein durch das, was es ist. In einer Welt, die das Bild nur noch als Ware oder als Statement duldet, ist dieses Gemälde ein Störfall. Und die kleine Ausstellung ist in Wahrheit ein großes Ereignis: eine Verteidigung der Kontemplation gegen die Tyrannei des Diskurses. Die Neuaufhängung des Ruhenden Mädchens ist keine kulturpolitische Sensation. Aber sie ist eine Geste, die verstanden werden will: Die Kunst muss nicht schreien, um zu sprechen. Sie darf leise sein. Sie darf schön sein. Sie darf uns verwirren durch ihr Anderssein.
Boucher hat uns nichts zu sagen. Aber sein Bild sagt alles, wenn man sich ihm überlässt. Marie-Louise O’Murphy weilt nicht mehr unter uns. Aber ihr Typus ist unsterblich. In dem Roman Au cas de malheur von Georges Simenon gesteht der Rechtsanwalt Lucien Gobillot in dem Moment, da die junge Yvette Maudet sich des Kleides entledigt: Quand j‘ai vu son ventre bombé de gamine, je savais que nous ne nous serions jamais separés.
François Bouchers „Ruhendes Mädchen“.
Saal XII
Ausstellung noch bis zum 6. Juli 2025
Alte Pinakothek München
Barer Str. 27
80333 München
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François Boucher: “Resting Girl” shines again in Munich
After months of restoration, François Boucher’s “Resting Girl” returns to the Alte Pinakothek in Munich – a quiet event that goes far beyond routine museum matters. The painting shows not just a dreaming girl, but an entire era: the Rococo, with its sensuality, its playfulness, and its insistence on beauty as a way of life.
Marie-Louise O’Murphy, the model, was only fourteen when she posed for Boucher. The painting is not a portrait, but a tableau of desire: available and elusive. In a time when images are constantly explained, judged, and instrumentalized, this work feels like a disruption – an echo from a visual culture that made no apologies.
Its return is more than a curatorial update; it raises questions: What do images do to us? And what do we do to them? In its quiet beauty, the painting stands against a present marked by prudery and polarization.
Boucher’s work does not demand attention – it rewards devotion. It reminds us: art may be beautiful, subtle, ambiguous – and thus all the more revealing.