Rezension von Barbara Hoppe.
Als „Lolly Willowes oder der liebevolle Jägersmann“ 1926 erschien, wurde seine Autorin Sylvia Townsend Warner über Nacht zum neuen Star am Literaturhimmel. Innerhalb von zwei Monaten werden drei Auflagen gedruckt. Auf Tea- und Dinnerpartys gehörte es zum guten Ton, den Roman gelesen zu haben. Dabei war Sylvia Townsend Warner kein schillernder Star. Vielmehr galt sie als etwas verschrobene Musikwissenschaftlerin, die als Kind zu aufmüpfig war, um im Kindergarten erzogen zu werden. Fortan fand der Unterricht zu Hause statt: Die Mutter brachte ihr Lesen bei, die Großmutter erzählte Geschichten und las mit der kleinen Sylvia Goethe und Coleridge, der Vater war für den Geschichts-, Musik-, Deutsch- und Französischunterricht zuständig. Die umfangreiche Hausbibliothek steuerte den Rest bei, um aus dem Mädchen eine literarisch und musikalisch höchst gebildete junge Frau zu machen. Freilich immer noch eine, die auf Konventionen pfiff. 17 Jahre lang hatte sie eine Liebesbeziehung zu einem verheirateten Musiklehrer, die noch parallel zu ihrer 1931 beginnenden Beziehung zur Lyrikerin Valentine Ackland weiterlief.
Diese ungewöhnliche Frau schrieb also diesen ebenso ungewöhnlichen Roman. Schon auf den ersten Seiten staunt man über den leichten Ton in ihrer Sprache. Nur wenige Zeilen reichen aus, und man befindet sich in einer Sprachwelt, die heute ausgestorben scheint. Sanft und unaufgeregt schreibt sie mit Witz und ironischem Unterton über den Versuch von Frauen, sich zu emanzipieren und unabhängig zu machen. Unterschwellig schwingt dabei auch jede Menge Kritik an den Umständen mit, in denen Frauen sich jahrhundertelang arrangieren mussten. Doch trotz des sozialen Sprengstoffs bleibt Sylvia Townsend Warner dem Freundlich-Erzählerischen treu.
Ruhig schreitet ihre Heldin Laura Willowes durchs Leben. Nach dem Tod des Vaters bleibt sie als 28-jährige Jungfer im alten Landhaus zurück. Ein Umstand, der um die Jahrhundertwende nicht akzeptiert werden kann. Ohne nach ihrer Meinung gefragt zu werden, nimmt sie ihr Bruder Henry zu sich nach London. Dort lebt Laura 20 Jahre mit Henrys Familie, wohlgelitten als „Tante Lolly“, ein unaufgeregtes, einförmiges Leben, in dem sie ihre Rolle gefunden zu haben scheint. Bis sie von jetzt auf gleich entscheidet, nach Great Mop zu ziehen, ein Dorf in den Chiltern Hills in der Grafschaft Buckinghamshire. Gegen alle familiären Widerstände setzt sie den Umzug durch. Bei der ruhigen Mrs. Leak findet Lolly ein neues Zuhause. Müßig und gedankenverloren verbringt sie ihre Zeit in der lieblichen Landschaft. Bis zu dem Tag, an dem Neffe Titus beschließt, seine Tante zu besuchen und zu bleiben. „Meine Ruh‘ ist hin, mein Herz ist schwer; ich finde sie nimmer und nimmermehr“ möchte man Gretchens Seufzen aus Goethes Faust der guten Lolly in den Mund legen. Wütend und unruhig verflucht sie den Neffen, der aus ihr wieder Tante Lolly macht und ihre neu gewonnene Freiheit okkupiert. Doch Rettung naht, denn der liebevolle Jägersmann ist ihr schon auf den Fersen. Schließlich gelingt es Lolly, endlich frei zu sein – und muss erkennen: Sie ist nicht die einzige, der als Hexe im Bunde mit dem Satan der Schritt in die Unabhängigkeit gelingt.
Man mag darüber streiten, ob Sylvia Townsend Warner mit dem Teufel nur ein Bild geschaffen hat, in dem alle nach Unabhängigkeit strebenden Frauen des Teufels sind oder es letztendlich doch wieder einen Mann braucht, um die Frauen zu befreien. Tatsache ist, dass „Lolly Willowes oder der liebevolle Jägersmann“ als zauberhafter, witziger und bissiger Roman zur Pflichtlektüre eines jeden Literaturliebhabers gehört.
Sylvia Townsend Warner
Lolly Willowes oder der liebevolle Jägersmann
Dörlemann Verlag, Zürich 2020
Buch kaufen oder nur hineinlesen
Bei Thalia kaufen oder für den Tolino
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.